Kinder auf der Flucht

Kinder auf der Flucht

16 Jahre alt, gestrandet in Deutschland, allein. Die Sprache fremd. Die Heimat zerstört. Grausame Bilder im Kopf. Überlebt. Mehr nicht. Weltweit haben sich im Jahr 2015 rund 60 Millionen Menschen auf die Flucht begeben. Laut Diakonie Deutschland sind etwa die Hälfte davon unter 18 Jahre alt. Deutschland hat nur einen Bruchteil dieser Menschen aufgenommen. Genauer gesagt, ein Hundertstel. Das ist nicht sehr viel. Und von diesem Bruchteil sind einige der unter 18-Jährigen nicht nur heimatlos, sondern auch ohne Eltern. Die deutschen Jugendämter haben 2015 rund 42 300 Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern ins Land kamen, in ihre Obhut genommen. Das sind 30 000 mehr als im Vorjahr. 400 dieser Jugendlichen leben im Rhein-Neckar-Kreis. Die meisten davon sind zwischen 16 und 18 Jahre alt.

Die Inobhutnahme dieser Kinder und Jugendlichen stellen die Jugendämter vor gewaltige Herausforderungen. Unabhängig davon, dass man die jungen Menschen unterbringen, ihnen Zugang zur Sprache ermöglichen, sie zur Schule oder in Ausbildung schicken muss, sind viele von ihnen schwer traumatisiert, haben in ihren Heimatländern oder auf der Flucht unendliches Leid erfahren. Wer kümmert sich um diese jungen Menschen, wo leben sie? Was wird aus ihnen?

Eine gewaltige Herausforderung für die Jugendämter

StadtLandKind hat mit Susanne Keppler, der Leiterin des Jugendamtes Rhein-Neckar, mit Angela Vollertsen, die zuständig ist für Pflegefamilien, und mit Silke Hartmann, Pressesprecherin im Landratsamt Rhein-Neckar, über die Aufgabe gesprochen, diesen Jugendlichen den Weg in eine Zukunft zu bereiten. „Die meisten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge leben in so genannten Jugendhilfeeinrichtungen, einige leben in betreuten Wohngruppen“, berichtet Susanne Keppler. Vor gut einem Jahr sah das anders aus. Da waren die Jugendlichen in Vielzahl noch in den Notunterkünften untergebracht. Das gibt es heute fast nicht mehr. „Nur wenn sie beispielsweise mit Verwandten eingereist sind und eine enge Bindung zu ihnen haben“, sagt Keppler, dann könne das in Ausnahmefällen vorkommen. Denn in den vergangenen Monaten sind immer weniger Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Die – für die Menschen auf der Flucht unendlich dramatische – Schließung der Balkan-Route zeigt ihre Wirkung.

Und so wie das Bundesamt für Migration fieberhaft daran arbeitet, die unzähligen Asylanträge abzuarbeiten, so können sich auch inzwischen die Jugendämter auf ihre wesentliche Aufgabe konzentrieren: Den jungen Menschen zu helfen, die jetzt hier leben. Der Rhein-Neckar-Kreis hatte bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt mit öffentlichen Aufrufen nach Pflegefamilien gesucht. 60 Familien haben sich gemeldet. Zwischen 35 und 40 Jugendliche leben inzwischen in einer solchen Pflegefamilie. Es sind vor allem Jugendliche aus Afghanistan, aus Syrien und auch einige wenige aus Afrika. Angela Vollertsen ist zuständig für Pflegefamilien im Jugendamt des Kreises. Sie ist die Schnittstelle zwischen den Jugendlichen und den Familien und sie ist begeistert, wie gut das Zusammenleben in den meisten Fällen funktioniert.

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Angela Vollertsen ist zuständig für Pflegefamilien im Jugendamt des Kreises. Sie ist die Schnittstelle zwischen den Jugendlichen und den Familien

Vor diesem Hintergrund scheint es zunächst verwunderlich, dass nur 40 von 400 Jugendlichen in Familien vermittelt wurden. Zumal die Mitarbeiterinnen im Jugendamt klare Vorteile in der Unterbringung in Pflegefamilien sehen: Der Spracherwerb zum Beispiel. „Mit vielen, die jetzt ein Jahr in der Familie leben, kann ich ohne Probleme kommunizieren. Da sind die Jugendlichen deutlich weiter, als jene, die in anderen Einrichtungen leben“, erzählt Vollertsen. Ein weiterer Vorteil sei die Integrationsfähigkeit. „In einer Familie erleben die Jugendlichen hautnah, wie Deutsche leben“. Viele beschreiben das Konstrukt als große Bereicherung. „Es ist ein Abenteuer für alle Beteiligten“, sagt Vollertsen und lächelt dabei. Auch seien die jungen Leute insgesamt erstaunlich offen: „Sie beobachten, sie wollen lernen, wie wir leben. Die machen das einfach toll“. Und manchmal, da sei es auch einfach lustig: Vor allem für die Jugendlichen, die viele Dinge hier ganz merkwürdig fänden. Zum Beispiel wie das mit den Hunden hier ist. Dass wir sie an der Leine führen und dass die Tiere unter dem Tisch liegen dürfen und gefüttert werden. Besonders erstaunlich fänden die meisten auch, mit was für einem kargen Essen wir uns zufriedengeben. Essen, das nach nichts schmeckt. Immer Nudeln und Kartoffeln. „Aber sie stellen sich drauf ein.“

Dennoch: „Nicht jeder Jugendliche ist dafür geeignet, in einer Pflegefamilie untergebracht zu werden. Und auch nicht jede Familie hat immer die Rahmenbedingungen, um jemanden aufzunehmen, auch wenn sie gerne möchte“, sagt Keppler. Deshalb sei es gut, dass eine große Vielfalt von unterschiedlichen Jugendhilfeeinrichtungen zur Verfügung stünde. „Man kann nicht sagen, eins ist besser. Und letztendlich gibt es auch Familien, die möchten beispielsweise nur ein Mädchen aufnehmen. Weil sie selber nur Mädchen in der Familie haben. Das ist aber nicht so einfach, weil die meisten Jungs sind.“ Und es muss einfach passen. „Wir hatten schon Familien, die dachten, wir suchen ihnen jetzt den gewünschten Jugendlichen raus. Das geht natürlich nicht. Im Mittelpunkt steht immer das Wohl den Kindes. Wir suchen die passende Familie für das Kind und nicht umgekehrt.“

Wenn sie da ist, dann findet Vollertsen sie auch. „Ich kenne die Pflegefamilien und ich kenne sämtliche Jugendliche. Und wenn ich das Gefühl habe: Die könnten gut miteinander, dann schlage ich das beiden vor.“ Und dann? Dann gebe es ein erstes Treffen. In der Jugendhilfeeinrichtung oder im Büro. Niemals bei der Familie. „Meistens wollen die nach dem ersten Treffen schon alles dingfest machen“, erzählt Vollertsen lachend. Aber alle müssten drüber schlafen. Dann trifft man sich wieder, unternimmt etwas zusammen, lernt sich kennen, so lange, bis sich alle sicher sind, dass sie das wollen. Durchschnittlich drei Wochen dauert dieser Prozess.

Meistens hat Vollertsen das richtige Gefühl. Nicht immer, daraus macht sie keinen Hehl. „Wir hatten fünf Fälle, bei denen der Jugendliche wieder in eine Jugendhilfeeinrichtung gekommen ist. Das lag aber nicht am Fehlverhalten des Kindes, das lag einfach daran, dass es zwischenmenschlich nicht gepasst hat. Letztendlich haben das aber erstaunlicherweise alle ohne größere Blessuren überstanden“, so Vollertsen. Der Kreis sucht nach wie vor Pflegefamilien, auch wenn immer weniger Jugendliche kommen. Es sei ja nicht sicher, dass das so bleibt. Im Jugendamt ist man froh, um jede Familie, die sich meldet und theoretisch da ist. Die Familien werden dabei eng begleitet.

„Für manche Familien ist das wie ein eigenes Kind“ 

Trotzdem gibt es Unwägbarkeiten, die niemand voraussehen kann. Wer einen Jugendlichen aus Afrika bei sich aufnimmt, der muss damit rechnen, dass dieser Junge Deutschland irgendwann wieder verlassen muss. Dass mit dem 18. Lebensjahr die Abschiebung droht. Die Jugendamtsmitarbeiterinnen winden sich ein bisschen bei diesem Thema. Sie selber haben keinen Einfluss auf ausländerrechtliche Entscheidungen, auf Asylanträge. Natürlich werden die jungen Menschen damit nicht allein gelassen. Jeder Einzelne hat einen Amtsvormund, der unterstützend zur Seite steht. Klar ist, „dass auch die Pflegefamilien darauf vorbereitet werden müssen, dass das passieren kann“, sagt Keppler. „Wir haben das zum Glück noch nicht erlebt. Weil bis jetzt niemand volljährig geworden ist.“ Aber die Jugendlichen werden älter. Man sieht, dass Angela Vollertsen die Vorstellung mitnimmt: „Für manche Familien ist das wie ein eigenes Kind“, sagt sie ernst.

Unabhängig davon sind die minderjährigen Flüchtlinge alle schwer traumatisiert. Wie geht man damit um? Werden die Kinder psychologisch betreut? „Das ist nicht so einfach“, sagt Vollertsen. „Das braucht erst mal Vertrauen. Es sind auch Jugendliche. Nicht nur Flüchtlinge. Und Jugendliche sind allesamt nicht immer offen für eine Therapie.“ Das Ziel ist deshalb zunächst: Halt und Stabilität zu geben, allein das sei schon hilfreich und heilend. „Die Jugendlichen sollen spüren: Da sind Menschen, die mögen mich, die helfen mir. Ich habe eine Peergroup, kenne andere Jugendliche. Ich kann regelmäßig eine Schule besuchen und lernen. Nicht nur alle paar Monate mal, bis die Schule wieder zerbombt ist oder der Lehrer tot. All diese Dinge helfen“, sagt Keppler und betont: Das sei die Grundvoraussetzung, um überhaupt erst mal Therapie zu starten. Wenn die Stabilität da ist, könne über den nächsten Schritt nachgedacht werden.

Vor einem Jahr, als auf einen Schlag so viele Menschen nach Deutschland gekommen sind, lagen die größten Herausforderungen in der passenden Unterbringung. Heute geht es darum, den Jugendlichen eine gute Perspektive zu eröffnen. Es geht darum, passende Schulen zu finden. „Wir haben sehr viele, sehr lernstarke Jungs“, betont Vollertsen. Jungs. Warum so wenig Mädchen? Vollersten erklärt es: „Es sind oft die ältesten Söhne, die Bedrohung erfahren im Herkunftsland. Weil sie von Taliban bedroht sind zum Beispiel. Und so eine Flucht ist wahnsinnig anstrengend. Wenn einzelne Jugendliche mir von ihrer Odyssee erzählen, dann ist es kaum nachvollziehbar, dass man das überhaupt schaffen kann. Da kommen einem die Tränen. Mädchen können das oft gar nicht schaffen. Das schaffen nur die Stärksten.“ Und wie verkraftet man das selber? All diese traumatischen Geschichten zu hören, sich tagtäglich mit den Erlebnissen dieser jungen Menschen auseinanderzusetzen und dabei den professionellen Blick nicht zu verlieren? „Ich glaube, dass wir das gut und richtig machen“, sagt Vollertsen und „daraus schöpfe ich Kraft“. Und alle nicken.

shy // Fotos: sho

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StadtLandKind hat mit Susanne Keppler, der Leiterin des Jugendamtes Rhein-Neckar, mit Angela Vollertsen, die zuständig ist für Pflegefamilien, und mit Silke Hartmann, Pressesprecherin im Landratsamt Rhein-Neckar, über die Aufgabe gesprochen, geflüchteten Jugendlichen den Weg in eine Zukunft zu bereiten.

Pflegefamilie werden 

Passender Wohnraum und ein polizeiliches Führungszeugnis sollte vorhanden sein. Darüber hinaus ist es jedem möglich, Pflegefamilie zu
werden. Das Jugendamt ist offen für jedes Familienmodell. Auch Alleinstehende können einen Jugendlichen aufnehmen. Emotional sollten Pflegeeltern „Feingefühl“ mitbringen. „Ein Gespür dafür, wann man über bestimmte Dinge reden kann. Und auch dafür, was man den Jugendlichen, die fast alles verloren haben, lässt. Den Glauben zum Beispiel“. Und: Niemand müsse seinen Job aufgeben, weil er einen Jugendlichen aufnimmt. „Das sind Jugendliche, die sitzen ja nicht von morgens bis abends rum. Die gehen zur Schule, spielen leidenschaftlich Fußball, treffen Freunde“, sagt Vollertsen. Natürlich sollte auch Zeit da sein, um gemeinsam zu essen oder etwas zu unternehmen. Und, und das ist für Vollertsen das Wichtigste: „Eine
gewisse Gelassenheit sollte man mitbringen. Sich einfach darauf einzulassen, auch mal ein Auge zudrücken, gemeinsam zu lachen.“ Wer sich vorstellen kann, Pflegefamilie zu werden, findet sämtliche Informationen über die Voraussetzungen, die Vergütung und Ansprechpartner zum Thema unter: www.rhein-neckar-kreis.de

13. Dezember 2016
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