Wir sind dann mal weg!

Wir sind dann mal weg

Jetzt mal ehrlich. Wer hat so richtig positive Erinnerungen an seine Schulzeit? Erinnerungen an Ermutigungen, Lob und Inspiration? Vertrauen wir auf Erkenntnissen, einem Wissen und Freundschaften, die seitdem bestehen? Oder wird der Gedanke an die Schulzeit eher mit dem Satz verdrängt: „Da muss man halt durch.“ Muss man da wirklich durch?

Eltern, die heute Schulkinder haben, scheinen schon zufrieden, wenn keine größeren Katastrophen eintreten. Fakt ist doch: wir arbeiten alle bis in den späten Nachmittag, holen müde, quengelnde Kinder ab, fahren diese zum Sport, zum Klavier, zur Nachhilfe und machen anschließend noch Hausaufgaben. Aber nicht alle Eltern sind damit zufrieden…

Die Mutter, nennen wir sie Christin, ist Anfang 30, Kulturwissenschaftlerin und Ethnologin, ihr Partner Max ist Ende 40 und Elektroingenieur. Die Kinder sind 5 und 2 Jahre alt – und eigentlich lebt die kleine Familie sehr gern in Heidelberg. Bis Christin begann, sich mehr und mehr mit dem Thema Schule zu beschäftigen. Keine Schulform schien das zu erfüllen, was sie sich für die zwei Kinder wünscht: Ein Lernen ohne Zwang und ohne Druck. „Kinder“, davon ist Christin überzeugt, „sind schon perfekte Wesen, wir müssen nicht an ihnen rumerziehen.“ Die Familie begann sich in das Thema Erziehung und Schule einzuarbeiten und fand bald heraus, dass es in Deutschland – und auch weltweilt – eine große Community von „Freilernern“ gibt: Familien, die ihre Kinder zuhause unterrichten.
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Ihr zieht in einigen Wochen nach Frankreich, um der in Deutschland herrschenden Schulpflicht zu entgehen. Gab es in eurer Nähe keine Schule, die infrage kam hat?
Christin: Wir haben uns einige Schulen in der Gegend angesehen, und vor allem auch hier im Ort Bekannte gefragt, wie zufrieden sie mit der Schule sind. Rundum zufrieden ist niemand! Es gab einige Leidensgeschichten, von zunächst begeisterten Kindern, die schon nach einigen Wochen gebremst wurden in ihrem Lernen und ihnen auch schnell die Lernfreude verloren ging. Ich selbst sehe Lernen als etwas Individuelles an, während in der Schule sehr viel Normierung stattfindet und leider auch viel zu oft vermeintliche Krankheiten diagnostiziert werden. Recht schnell kam ich durch meine langjährigen Kontakte zum Freilernen. Geschichten von Freilerner-Familien und einzelnen Freilernern machen uns Mut. Von einigen Freien Schulen bin ich nach wie vor noch begeistert, da für uns dann aber so oder so ein Umzug angestanden hätte, und das Lernen hier dann doch nur so halbwegs „frei“ gewesen wäre, entschieden wir uns recht schnell für ein Leben, in dem selbstbestimmtes Lernen – Leben und Arbeiten – möglich ist.

Habt ihr selber auch schlechte Erfahrungen mit Schule gemacht?
Christin: Ja, wir haben beide das Schulsystem durchgemacht und wissen um die Zwänge. Selbst wenn wir mit der Zeit gelernt haben, gute Noten zu machen, so haben wir eher verlernt für uns SELBST zu lernen.

Max: Alles in allem habe ich damit viele tausend Stunden in Schule und Studium zugebracht, in denen ich nicht glücklich oder zufrieden war. Warum sollte man Kinder und Jugendliche in so ein System zwingen, wenn es auch anders geht?

Geht es denn anders?
Christin: Fast überall auf der Welt geht es anders.

Waren oder sind die Kinder in einem „normalen“ Kindergarten?
Max: Bisher sind unsere Kinder bei Tagesmutter und in einem wunderbaren Kindergarten.

stadtlandkind.info/stichwort-homeschooling

Wie wollt ihr das Prinzip „Homeschooling“ mit eurer beruflichen Karriere vereinbaren? Einer muss ja definitiv zuhause bleiben.
Christin: Wir machen uns beide selbstständig und sind beide abwechselnd für die Kinder da, bzw. in der Nähe.

Während im europäischen Ausland eine „Bildungspflicht“ besteht, herrscht in Deutschland strenge Schulpflicht. Hat diese Schulpflicht nicht auch viele Vorteile? Wer sein Kind zuhause unterrichten will, muss große Eigeninitiative ergreifen. In Deutschland kostet jedes Schulkind den Staat monatlich rund 500 Euro. Lohnt sich das wirklich?
Max: Ich schätze das Bildungsangebot in Deutschland. Es gibt ein sehr großes Angebot an Bibliotheken, Studieren kostet keine hohen Studiengebühren. Für mich sollte es eine Pflicht für den Staat geben, jedem Kind die Bildung zukommen zu lassen, die für das Kind passend ist. Was aber bewirkt eine Schulpflicht? Meiner Erfahrung nach nur, dass die Antwort auf die Frage „Warum gehst du in die Schule?” bei den meisten Schülern lautet: „Weil ich muss!” und nicht etwa „Weil ich dort tolle Dinge lerne” oder gar „Weil mir das Lernen in der Schule Spass macht“.

Neben Allgemeinbildung vermittelt ein Schulbesuch auch: soziale Kompetenz, Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung. Wie kann das zuhause vermittelt werden?
Max: Über den Begriff „Allgemeinbildung” kann man streiten. Wer bestimmt denn, was man wissen muss? Ist es vorteilhaft, wenn alle dasselbe Wissen haben? Zu den Begriffen Soziale Kompetenz, Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung: Meines Erachtens lernen die Schüler, wenn überhaupt, höchstens die letzten beiden Fähigkeiten.

„Ich kann nicht erkennen, wie die Schule Fähigkeiten fördert, die es den Kindern ermöglicht, echte Freundschaften einzugehen und aufrechtzuerhalten“

In der Regelschule sind die Kinder die meiste Zeit mit etwa 30 gleichaltrigen Mitschülern in einer Klasse zusammen. Ein Kind, das Freilerner ist, hat viel mehr Zeit und Möglichkeiten, sich seine Freunde auszusuchen, auch Freunde die jünger oder älter sind.
Darüber hinaus beschränkt sich das Familienleben von Familien mit schulpflichtigen Kindern meist auf das Wochenende. Die Wochentage hingegen sind geprägt von Stress beim Frühstück durch den Zwang, früh in die Schule gehen zu müssen. Nachmittagsunterricht wird mehr und mehr Normalität und wenn die Kinder abends dann noch Hausaufgaben machen müssen, dann verbringen viele Eltern nur deshalb Zeit mit ihren Kindern, weil sie den Kindern bei den Hausaufgaben helfen müssen. Zeit für echte Beziehung und auch für freies Spiel bleibt da wenig.

Seid ihr auch davon überzeugt, dass Kinder von Natur aus in der Lage sind, selbst alles zu lernen, was sie für ihr Leben brauchen, auch die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen? (und es auch tun …)
Christin: Ja! Wenn man sie darin unterstützt und begleitet, ihnen hilft an Orte und Lern-Literatur zu kommen, sehe, höre und lese ich immer mehr.

Innerhalb des Homeschooling-Konzeptes gibt es unterschiedliche Ansätze. Diese reichen von:Das Schulpensum zuhause durchnehmen bis hin zu: den Kindern frei überlassen, was sie wann und wie lernen möchten.
Christin: Wir nennen uns „Freilerner“, aus dem Amerikanischen kommt der Begriff „unschooling“ aber auch natural learning, zweiterer gefällt uns gut, da er hervorhebt wie natürlich das Lernen ist. Es ist in unserer Evolution verankert dass wir lernen wollen! Der Begriff Homeschooling beschreibt das Kopieren des Systems, die Eltern übernehmen die Lehrerrolle. Ganz im Gegenteil dazu lernen Freilerner das, was sie interessiert, das was sie wollen … und eignen sich Dinge in viel kürzerer Zeit an.

In Deutschland herrscht Schulpflicht. Wer seine Kinder von der Schule abmeldet, dem drohen Strafverfolgung, Bußgelder, der Entzug des Sorgerechts. Schreckt euch diese Vorstellung?
Max: Nein, mittlerweile schreckt mich das nicht mehr; ich kenne Familien, die das auch hier leben und Wege gefunden haben. Das geht bis zur Bildungsvereinbarung mit den Behörden.

stadtlandkind.info/stichwort-schulpflicht

Und wenn eure Kinder später von sich aus in die Schule möchten?
Christin: Dann dürfen sie sich zu gegebener Zeit selbst dazu entscheiden. Man kann auch als Externer einen Schulabschluss an einer Schule machen, ohne dass man diese vorher besucht hat.

Interview: Bettina Wolf // Fotos: Simon Hofmann

 

Mehr zum Thema:

gewaltohnemich.de
bildungskongress.com
unerzogen-magazin.de
tologo.de/edition-unerzogen

Noch ein Tipp: Wer sich für das Thema „Freilernen“ interessiert, kann über die Redaktion Kontakt zu der Familie aufnehmen. Einfach eine Mail an redaktion@stadtlandkind.info schicken. Wir leiten die Anfrage dann gerne weiter.

2 Kommentare

Danke !!!

ICh glaube, die Autorin verwechselt Freilerner und Homeschooler.
Homeschooler unterrichten ihre Kinder.
Freilerner lehnen den Unterricht ab.
Das ist ein himmelweiter Unterschied.

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