Sternenkinder

Sternenkinder

Was bleibt, sind leere Arme

Das Mädchen hält vier weiße Rosen in der Hand. Vier für jedes der Geschwister, sich selbst eingeschlossen. Ihre Finger sind fest um die Stiele geschlossen, als sie im Kreis der kleinen Gruppe über den mit Sand und Kiesel bedeckten Weg unter den Bäumen entlang geht. Sie weiß, dass sie die duftenden Rosen mit ihren weichen Blättern gleich in die feuchte Erde gleiten lassen wird, hinein in das Grab direkt neben die Urne, in der das eine ihrer Geschwister im Rahmen der Gedenkfeier an diesem Tag begraben wird. Er oder sie – ein Sternenkind. Ein Kind, das für einige Wochen, vielleicht Monate, ein schlagendes Herz der Hoffnung im Leib der Mutter war, aber nie das Licht der Welt sah.

Die Frage nach dem Sinn dessen, warum das ungeborene Leben nicht ins Leben darf? „Ich kann darauf auch keine Antwort geben.“ Monika Paschke-Koller sitzt in der Caféteria der GRN-Klinik Weinheim. Sie ist Klinikseelsorgerin, gestaltet mitunter in Weinheim die Gedenkfeiern für Sternenkinder. Sie erlebt die Trauer der Eltern, die ihr Kind verlieren, erlebt die Starre und die Verzweiflung. Manchmal erst am Tag des Begräbnisses, manchmal unmittelbar nach dem Verlust. Dann sei es wichtig da zu sein, mit auszuhalten – den Schmerz, die Schuldgefühle. „Diese Eltern wollen nicht hören, dass sie wieder ein Kind bekommen können. Man kann kein Kind ersetzen“, sagt Monika Paschke-Koller. Oft ist es das, was Eltern aus dem Kreis um sich herum hören: gut gemeinte Worte, die trösten sollen, die in ihrer Unbeholfenheit aber nur weitere Wunden schlagen in die Zeit der Trauer. Eine wichtige Trauer, die unter Umständen bodenlos ist.

„Ich bin jeden Tag durch den Tunnel gefahren und habe gedacht: Wenn ich jetzt einfach gegen die Wand fahre, dann ist alles vorbei, dann muss ich diesen Schmerz nicht mehr ertragen.“ Karina* ist Mutter dreier Sternenkinder. Ihre Stimme ist leise, als sie erzählt. Ein Wunschkind war es, das sich 2007 ankündigte. Ein Mädchen. „Ich wusste schon, wie sie heißen sollte“, erinnert sich Karina. Die Schwangerschaft ist problematisch. Früh wird ein Hydrops fetalis festgestellt, eine Flüssigkeitsansammlung, die auf Chromosomenveränderungen oder Erkrankungen des Kindes hinweist. Die Überlebenschance: zwischen 1 und 5 Prozent. Karina und ihr Mann müssen sich neben der hohen Wahrscheinlichkeit einer Fehlgeburt mit der Frage eines Schwangerschaftsabbruchs auseinandersetzen. Entscheiden müssen sie nicht. Die Schwangerschaft endet in der 17. Woche. Der Arzt findet keinen Herzschlag. Es gibt keinen Herzschlag mehr. „Ich habe nicht verstanden, was er sagen wollte“, erinnert sich Karina an den Moment, in dem ihre Hoffnung auf das Muttersein zerbrach. Sie schweigt. Tränen zeigen die Wunden, die immer noch brennen nach all den Jahren, Wunden, die sich nur langsam schließen. Ihre Welt ist  fortan eine andere: Ihr Kind ist tot. Sie kann direkt in die Klinik fahren, die Geburt einleiten lassen. Karina geht stattdessen mit ihrem Mann nach Hause. „Ich wollte meine Tochter behalten.“ Eine letzte Nacht mit ihrem Kind. Am nächsten Tag bringt sie ihre Tochter in Heidelberg zur Welt. „Sie war einfach perfekt“. Karina weint mit der Erinnerung an kleine Füße, an Miniatur-Fingernägel und ein zartes Gesicht. Die Tränen strömen und sie spricht, während die Trauer und der Schmerz ihre Worte ersticken. Dreimal erfährt sie Verlust. Zweimal bringt sie ihre Kinder zur Welt. Doch sie hört keinen ersten Schrei, sie findet kein Leben in ihren Armen. Es bleibt nur Trauer.

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„Trauer ist das ganz natürliche Gefühl, das wir empfinden, wenn wir jemanden oder etwas, der oder das uns lieb war, verlieren – wenn das, was wir erwünscht, erhofft, erträumt und ersehnt haben, nicht eintritt.“ Ein Satz aus dem Buch „Gute Hoffnung – jähes Ende“ von Hannah Lothrop. Die Definition spricht von Träumen, vom Erhofften und trifft damit auf den Punkt die Trauer der Eltern von Sternenkindern. Die Bindung zu dem Kind, die schon da ist, die Freude über das Leben, das kommen soll, über eine Welt, die man fortan durch andere Augen betrachtet – all das ist da. „Die Tage, die noch kommen sollten und von denen keiner da war.“ Monika Paschke-Kollers Worte während der Gedenkfeier führen vor Augen, dass mit dem Tod eines Kindes nicht nur ein Leben geht, sondern der gerade geschmiedete Plan des neuen Lebens als Familie in sich zusammenfällt. Später erzählt sie davon, wie wichtig es ist, dem Geschehen eine Realität zu geben, denn, so die Klinikseelsorgerin, „das, was die Eltern erleben, ist unwirklich.“ Und doch muss man sich dem stellen, sagt Monika Paschke-Koller: „Manche müssen verdrängen, aber das hebt die Trauer nicht auf.“ Denn es braucht die Trauer.

„Um wieder heil zu werden, wieder liebes- und lebensfähig zu sein, muss ich es wagen, die Erfahrung mit allen aufkommenden Gefühlen bewusst zu durchleben“, schreibt Hannah Lothrop in ihrem Buch. Ein Weg, den auch Karina wählt. Mit dem bewussten Abschied von ihrem Kind beginnt für sie der lange Weg der Trauer. „Ich fühlte mich so leer; nicht negativ, eher wie in einer Blase.“ Das Gefühl hält Monate an. Sie ist abgeschottet von der Welt. Immer wieder muss sie im Außen darum kämpfen, ihre Trauer erleben zu dürfen, Ereignisse zu meiden, die sie zielsicher in ihren Schmerz führen: „Ich konnte nicht zu einer Taufe gehen. Ich wollte das Kind nicht halten.“ Die Geburtstage der Nichten – manchmal zwingt sie sich zur Teilnahme, auch wenn sie nicht teilen will. Es bringt sie an den Rand ihres Lebenswillens. Im Nachhinein sagt sie, sie sei „komisch“ gewesen. Doch hätte sie sich von ihrer Umwelt trotzdem, wenn nicht Verständnis, so doch Akzeptanz gewünscht, statt der Ungeduld und des Rufs nach dem Zusammenreißen. Für ein gebrochenes Bein hätte sie die bekommen, für ihr gebrochenes Herz nicht.

„Für mich ist Trost, dass das Kind gelebt hat und dass es gehen durfte in all seiner Unversehrtheit.“

Die Frage danach, wann sie endlich aufhört  mit ihrer Trauer, mit dem Rückzug, kann sie kaum ertragen, weiß es selber nicht, sagt: „Wenn es vorbei ist.“ Aber auch ihr selbst fällt die überbordende, tiefe Trauer schwer. Sie fühlt sich neidisch auf die, die Kindergeburtstag feiern. Sie wünscht ihnen nichts Schlechtes – nur für sich selbst das Feiern des Geburtstags ihrer eigenen Kinder. Sie sucht Rat bei einer Klinikseelsorgerin, lässt sich im Anschluss von einer Beratungsstelle begleiten. Hier erfährt sie Annahme, hier wird ihr ein Raum der Trauer geöffnet. Karina findet die Bestätigung, dass sie nicht „spinnt“, nicht „verrückt“ ist. Es sei lediglich Trauer, es sei einfach Schmerz. „Das hat mir geholfen, auch im Alltag wieder besser zu funktionieren“, sagt sie im Rückblick. Es ist das, was Monika Paschke-Koller meint, wenn sie sagt: „Alles darf sein“. Trauer zeigt sich auf ganze eigne Weise. Und Trost ist schwer.

Trost? „Wenn man einfach ehrlich ist, wenn man sagt, dass man nicht weiß, was man sagen soll – denn es gibt nichts, was man sagen  kann“, sagt Karina. Über die Worte stellt sie die Taten: zeigen, dass man da ist, statt es nur zu sagen – der Anruf, das Gespräch. Sie selbst sucht nach dem Verlust die Natur, läuft durch den Wald. „Es hat so gutgetan einfach da zu sein, ein Teil der Natur zu sein. Denn auch hier passieren Grausamkeiten.“ Das,  was nicht in das sterile Leben passt, in dem man mit Trauer unpassend ist. Monika Paschke-Koller sagt dazu: „Für mich ist Trost, dass das Kind gelebt hat und dass es gehen durfte in all seiner Unversehrtheit.“ Ein Kind, behütet bis zum Schluss des viel zu kurzen Lebens. Ein Kind, das die Eltern halten und lieben wollen, all das mit ihm erleben möchten, was ein Leben ausmacht, worauf sich Vater und Mutter durch die Monate der Schwangerschaft und die Geburt vorbereiten. „Doch es ist nichts da. Man hat nur leere Arme“, sagt Karina. Man ist Mutter – und hat kein Kind. Ein Baustein im Verarbeitungsprozess ist für Karina die Gedenkfeier und die Beisetzung ihrer Tochter. „Dass jemand über mein Kind spricht, dass gesagt wird, „das waren eure Kinder, auch wenn sie tot sind“, das war das, was ich hören wollte.“ Auch Monika Paschke-Koller spricht während der Trauerfeier über die Kinder, spricht mit ihnen, lässt ihre Namen aus dem Lebensbuch, das am Eingang der Trauerhalle ausliegt, verlesen. Sie legt ihre Hand an die Urne in dem Wissen, dass keines der Kinder, die an diesem Tag beerdigt werden, allein ist. Sie alle gehen den letzten Weg gemeinsam. Zusammen mit der kleinen Trauergemeinde hin zum Grab.

„Es geht um Rituale, auch um eine Verortung der Trauer“, sagt Monika Paschke- Koller über den Hintergrund von Trauerfeier und Beisetzung. Und genauso um den Platz des Kindes in der Familie. Darum, dass es kein Tabu bleibt. Von diesem Tabu sind die Kinder, für die an diesem Tag die Flöte am sternenförmig angelegten Grab spielt, weit entfernt. Ein Paar steht gemeinsam am offenen Grab, schaut hinab, dahin, wo Stofftiere, kleine Engel und bunte Steine an andere Sternenkinder erinnern. Sie lächeln sich an, geben sich einen Kuss. Ein friedlicher Abschied.

Währenddessen weint ein Vater. In der Trauerhalle noch ruhig, zittert sein Körper in diesen Momenten unter den Tränen des Verlusts. Und vier weiße Rosen in der Hand einer Schwester zeugen von Liebe und Verbundenheit zu einem Sternenkind, als sich Finger öffnen und die unversehrten Blüten in das Grab gleiten.
Text und Fotos: cs

*Name von der
Redaktion geändert

Als Sternenkinder werden Kinder bezeichnet, die mit einem Geburtsgewicht von weniger als 500 Gramm vor, während oder bei der Geburt versterben. Über lange Zeit haben diese Kinder rechtlich nicht existiert, eine Bestattung im eigenen Grab war damit ausgeschlossen. Erst eine Petition des Ehepaars Barbara und Mario Martin – selbst Eltern dreier Sternenkinder – änderte das. Seit Mai 2013 können Eltern ihre Sternenkinder beim Standesamt namentlich – auch rückwirkend – registrieren lassen. Mit der erfolgreichen Petition wird Kindern unabhängig von ihrem Geburtsgewicht eine Existenz gegeben, sie als Personen anerkannt und den Eltern ein Recht auf Bestattung ihres Kindes im eigenen Grab eingeräumt.

Literatur zum Thema: stadtlandkind.info/literaturempfehlungen-sternenkinder

Hilfe im Netz:http: stadtlandkind.info/hilfe-im-netz