StadtLandKind. | Ausgabe 4/2022

Familienpolitik 19 Anfälle sind bis heute geblieben – trotz vieler Therapien, schwerer Medikamente und Hirnimplantat. Sie werden getriggert durch Situationen, in denen er sich, ähnlich seiner ersten Schulerfahrung, ausgeliefert fühlt. Erst einmal leistete die Familie von da an die Fahrten eigenständig, aber im Laufe der ersten Monate stellte sich heraus, dass „kein förderbedarfsgerechtes Lernen in der Kleingruppe stattfand. Sondern durch die emotionale Überforderung gar kein Lernen möglich war, dort weder Inklusion noch echte Schulbildung stattfand," rekapituliert Karla. „Keine Schule wollte ihn“ Die Suche nach einer Schule, die zur Inklusion bereit war, begann aufs Neue. „Keine Schule wollte ihn“, Karla erzählt es nüchtern. Viele vielversprechende Erstgespräche, viele Enttäuschungen, viele Absagen. „Als ich Paul von einem Probetag abholte, sagte mir der Schulleiter ohne jede Empathie oder Höflichkeit ins Gesicht: ‚Das hier hat überhaupt keinen Sinn!' Eigentlich bin ich sehr nervenstark. Aber an dem Tag musste ich auf dem Heimweg so sehr weinen … und Paul auch.“ Doch als sich eine Grundschule in einer Nachbarstadt bereit erklärte, ihn aufzunehmen – sie starteten gerade mit einer integrativen Außenklasse –, konnte Paul dort eingeschult werden. Zum zweiten Mal mit Zuckertüte und Familienfest. Die Eltern waren überglücklich und die Grundschulzeit verlief super. Auch der neue Fahrdienst war freundlich und zuverlässig. Soweit es ihm möglich war, erlernte Paul die Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen, er hatte Freunde und eine echte Klassengemeinschaft. Mit dem Ende der Grundschulzeit war erst einmal wieder Schluss mit Normalität. Ist es für Grundschulen inzwischen, wenn auch nicht normal, so doch möglich, Inklusion anzubieten und umzusetzen, fühlen sich weiterführende Schulen „komplett überfordert“, so Karla. „Dabei gibt es nicht nur die für Deutschland verbindliche UN-Behindertenrechtskonvention, sondern auch ausgearbeitete Leitlinien des Schulamtes, wie Inklusion gelingen ter. „Die vier Jahre dort waren für ihn bisher die besten. Er wurde in seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten genauso wahrgenommen wie alle Kinder." Statt Inklusion: Ruhig- stellen in der letzten Reihe Die eigentlichen und bis heute anhaltenden Schwierigkeiten begannen mit der Einschulung. „Die Waldorfschule, unsere Wunschschule, traute es sich nicht zu. Sie empfahlen eine Förderung in kleineren Gruppen.“ Die Eltern mussten sich schließlich erst einmal von ihrem Wunsch nach einem inklusiven Schulbeginn verabschieden, Paul würde eine Förderschule besuchen. So der Plan. Aber: „Es ging von Anfang an schief. Unser Sohn war mit sechs anderen Kindern in einer Klasse, die teilweise sehr verhaltensauffällig waren. Paul wurde bedrängt, seine Sachen wurden zerrissen. Und: Er sollte das fehlende Sozialverhalten der anderen kompensieren und fühlte sich dem schutzlos ausgeliefert. Er war ja ein wertschätzendes Miteinander gewohnt und verstand die Welt nicht mehr“, berichtet die fünffache Mutter. Hinzu kam, und das wurde für die Eltern das größte Problem: diese Schule war sehr weit entfernt. Paul musste also jeden Morgen 90 Minuten vor Schulbeginn von einem Fahrdienst abgeholt werden und wurde mittags auch wieder 90 Minuten nach Hause gefahren. „Paul stieg also jeden Morgen im Dunkeln in ein Auto zu einem extrem unfreundlichen und mürrischen Fahrer, der – wie wir später erfuhren – ein Alkoholproblem hatte und der dementsprechend fuhr. Paul konnte sich damals noch nicht so gut ausdrücken. Wir verstanden erst einmal nicht, wo das Problem lag. Aber sobald er morgens in das Auto steigen musste, hat er sich übergeben. Spätestens da hatten wir es verstanden.“ In dieser Zeit bekam Paul zum ersten Mal epileptische Anfälle als Reaktion auf den großen Stress. Die Behinderte Menschen werden in Deutschland immer noch systematisch aussortiert. Obgleich sich Deutschland bereits 2009 der Inklusion verpflichtet hat (UN-Charta-Unterzeichnung), besuchen Kinder mit Beinträchtigung noch immer Förderschulen, um anschließend abgeschottet in Behindertenwerkstätten zu arbeiten mit einer Entlohnung, die weit unter dem Mindestlohn liegt. Eine echte Teilhabe an und in der Gesellschaft findet nicht statt. Selbst wenn der Besuch einer Grundschule dank engagierter Eltern und Lehrer und aufgeschlossener Grundschulen noch gelingt, wird es anschließend schwierig. Wo können sich Jugendliche mit und ohne Behinderung zwanglos und barrierefrei treffen? Und: Wie können die Barrieren in den Köpfen der Menschen sinken, wenn kein gemeinsames Leben gelebt wird? Welche Angebote gibt es für das soziale Leben junger Erwachsener? Deutschland ist noch immer in den Kinderschuhen, was die Inklusion betrifft, und könnte doch schon viel weiter sein. Inklusion darf nicht länger ein Wunschkonzert sein. Eltern und Kinder sollten nicht länger dankbar sein müssen für den Platz in einem inklusiven Kindergarten oder einer „ganz normalen“ Schule. Es sollte endlich normal werden, behindert zu sein. bw Inklusion: Zufall und Glück – Kommentar –

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