StadtLandKind. | Ausgabe 4/2022

Familienpolitik 20 kann. Mit differenziertem Lernmaterial, mit dafür ausgebildeten Sonderpädagogen und einem Schulamt, das dazu bereit ist.“ Doch statt Inklusion herrsche Überforderung. Paul hatte dann noch mal vier wirklich tolle Jahre, weil er einen engagierten Sonderpädagogen bekam, der Inklusion als ein „Herzensthema“ für sich entdeckt hatte und sich weit über seine Kräfte hinaus für die Schüler mit Beeinträchtigung einsetzte. Die Schule – die Leitung, die anderen Lehrer – nahmen seine Mehrarbeit gern an. Alles wurde diesem einen Pädagogen aufgelastet. Aber so kann das Thema natürlich nicht wachsen. „Alle Lehrer aller Schulen müssten sich bereits im Studium damit beschäftigen“, ist Pauls Vater überzeugt. „Und zwar nicht freiwillig, sondern es müsste ihre Pflicht sein. Damit Inklusion nicht länger ein Wunschkonzert ist. Damit Eltern nicht dankbar sein müssen, wenn ihr Kind inklusiv beschult wird. Damit Lehrkräfte mit behinderten Kindern nicht länger so kommunizieren, als wäre deren Beschulung sinnlos oder zweitrangig, sondern auf Augenhöhe. Und damit sich die Schüler nicht als Fremdkörper wahrnehmen, die – wenn nicht zufällig ein engagierter Lehrer vor Ort ist – als Störfaktor in die letzte Reihe gesetzt und mit dem Tablet ruhiggestellt werden.“ Die Eltern sind überzeugt: „Wenn engagierten Sonderpädagogen wegen mangelnden Rückhalts im Team die Kraft ausgeht, findet keine Inklusion mehr statt und somit auch keine Bildung für die Schüler im inklusiven Bildungsangebot." Viele, viele schlaflose Nächte Es folgten Schulwechsel, zermürbende Streitigkeiten mit Schulleitungen und Institutionen und viele, viele, schlaflose Nächte. Und immer wieder heftige epileptische Anfälle von Paul, wenn es um das Thema Schule ging. „Wie soll eine Zukunft für unseren Sohn aussehen?“, sorgt sich Karla. „Noch ist er in unsere große Familie eingebunden, und deshalb nicht einsam, aber das wird nicht immer so sein. Paul muss eine Zukunft auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Er muss die Möglichkeiten bekommen, einen Beruf nach seinen Interessen und Stärken zu ergreifen und soziale Kontakte zu leben, in der Gesellschaft und für die Gesellschaft zu leben und zu arbeiten … denn das ist sein Recht!“ Inzwischen unterrichtet Karla Paul zuhause. Durch intensive Bemühungen und Kontakte haben ihm die Eltern einen Praktikumsplatz in einem Start-up ermöglichen können, das sich mit Solidarischer Landwirtschaft beschäftigt. Hier blühte Paul auf und fühlt, dass er beiträgt zum Gelingen des Betriebes. Und, wenn „man einen Wunsch an eine gute Fee hätte“, hofft Karla, könnte sich dort für Paul ein echter Arbeitsplatz ergeben. Bisher sieht es gut aus. Die Eltern bekommen positive Rückmeldungen und arbeiten zuhause das nach, was ihm tagsüber begegnet ist. Welches Gemüse er geerntet hat, was man damit kochen kann, woher es stammt. So viele Baustellen. So viele Barrieren stellen sich Eltern mit behinderten Kindern in den Weg. Was könnte sich ändern? Was muss sich ändern? Karla überlegt. „Es muss sich so vieles ändern. Aber nicht nur im Schulsystem, sondern auch in den Köpfen der Menschen: Inklusion muss selbstverständlicher Alltag werden. Wir sind eine vielfältige Gesellschaft und Kinder mit Behinderungen sind ein Teil dieser Vielfalt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“ bw // Fotos: Adobe Stock * Aufgrund von Persönlichkeitsrechten haben wir Namen und Orte verändert. Umfassend zum Thema informiert Raul Krauthausen auf seiner Website: raul.de/leben-mit-behinderung. Raul Krauthausen ist als Menschenrechts- und Inklusionsaktivist deutschlandweit bekannt, er schreibt und bloggt auch über das Leben und Arbeiten in Werkstätten für Behinderte. Zum Weiterlesen:

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