StadtLandKind. | Ausgabe 4/2022

Familienpolitik 22 Sehr geehrter Herr Schulte-Markwort, in Ihrem neuen Buch geht es um „mutlose Mädchen“. Von diesem Phänomen hatten wir in der Redaktion noch nie gehört. Aber beim zweiten Nachdenken fiel mir ein: Habe ich nicht genau so ein Kind zuhause?! Bisher hatte ich die Zurückgezogenheit und Weltabgewandtheit meiner Tochter auf die Pubertät und Corona geschoben. Wie Sie ja auch schreiben: Die Pubertät erfordert viel Mut. Aber: Wie unterscheiden sich „normale“ Stimmungsschwankungen in der Pubertät und „Mutlosigkeit“? Das ist eine sehr gute und differenzierte Frage, die sich Eltern stellen sollten. Und zwar immer dann, wenn sie Zweifel haben. Es besteht ein großer Unterschied zwischen Mutlosigkeit und Pubertät. Pubertierende Jugendliche sind zwar auch in einer Art Ausnahmezustand, aber sie haben keinen Veränderungsauftrag an uns. Sie wollen nichts ändern. Mutlose Mädchen wollen etwas ändern. Sie wissen aber nicht, wie oder was. Wie erklären Sie sich die Mutlosigkeit der heutigen Mädchen? Der entscheidende Satz dieser Mädchen lautet: Ich will nicht so erschöpft werden wie meine Mutter. Das heißt, die Mütter in ihrer Überarbeitung, ihrer Aufopferung und der Dreiteilung von Berufen sind für diese Mädchen keine Vorbilder. Das ist ein dramatischer Befund, und aus diesem Grund bin ich sehr alarmiert, weil das 70 Jahre emanzipatorische Bewegung aufhebt. Sie schreiben viel über die Mütter, wo bleiben die Väter? Es gibt zwar immer mehr junge Väter, die Teilzeit arbeiten, aber die emotionale Arbeit, die Familienarbeit ist nach wie vor ungleich verteilt. Sie lastet auf den Müttern. Für mich steht dahinter, dass für Frauen und Männer Mutterschaft an sich keinen Wert hat. Mutterschaft ist natürlich in Deutschland ein schwieriger Begriff. Ich würde mir trotzdem wünschen, dass wir dieser existentiellen Dimension unseres Lebens mehr Raum und mehr Wertschätzung entgegenbringen. (Ohne dass ich hier als alter weißer Mann machomäßig Mütter zurück an den Herd bringen will!) Polemisch gefragt: Die Mütter sind also am Zustand der Mädchen schuld? Das Drama ist, Mütter können es gar nicht richtig machen, also auch nicht falsch. Egal, ob sie „nur“ Mutter (da kommt die mangelnde Wertschätzung schon sprachlich heraus) sein möchten oder Karriere machen. Beides ist in den Augen der Gesellschaft falsch. Bleibt sie als Mutter zu Hause, muss sie in Kauf nehmen, dass das entwertet wird und sie nicht ernst genommen wird, weil das alles nicht zählt. Wenn sie eine Bedeutung haben will, muss sie arbeiten. Aber in den meisten Fällen müssen, rein finanziell, beide Eltern arbeiten … Das heißt aber nicht, dass sich das beide freiwillig ausgesucht haben. Ich glaube, wir brauchen eine gesellschaftliche Diskussion darüber, wie Familie aussehen soll. Wie soll sich die Arbeit für Familie öffnen? Wie kann sich die Arbeit in die Familie integrieren und umgekehrt? Hier stehen wir erst ganz am Anfang. „Die Pubertät erfordert besonders viel Mut“ Bitte erklären Sie uns Ihre These: „Diese Mädchen wissen nicht, wie sie in die Welt kommen sollen“. Sie bedeutet, dass Mädchen ratlos vor einem sitzen und sagen: „Da draußen lockt mich nichts. Ich weiß nichts. Ich weiß nicht, wie es geht, Freunde zu finden, und ich weiß auch gar nicht, ob ich Freunde möchte. Das ist alles viel zu anstrengend für mich." Diese Haltung ist ein Kennzeichen extremer Ratlosigkeit, die sich schnell auf die Behandler und Therapeuten überträgt. Nicht so erschöpft werden wieMama Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort ist ein deutscher Kinder- und Jugendpsychiater und Universitätsprofessor. Der Autor zahlreicher Sachbücher ist besonders bekannt für seine Arbeiten zur Erschöpfungsdepression (Burnout-Syndrom) bei Kindern und Jugendlichen. Als wissenschaftlicher Leiter begleitete Schulte-Markwort zudem den Aufbau der Fachklinik Marzipanfabrik in Hamburg- Bahrenfeld. Foto: Nina Grützmacher Zur Person

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