Aus dem Bauch heraus

Aus dem Bauch heraus

„Attachment Parenting“. Was ist das eigentlich? Und warum sprechen plötzlich alle davon? Ist es eine Haltung? Eine Bewegung? Eine Vorgabe, der alle frisch gebackenen Eltern folgen müssen oder sollen? Wir haben recherchiert und sind bis zu den Ursprüngen des Begriffs zurückgegangen.

„Attachment Parenting (kurz AP) oder eingedeutscht an„bindungsorientierter Elternschaft“ geht auf den US-amerikanischen Kinderarzt und Professor für Kinderheilkunde und Vater von sieben Kindern, Dr. William Sears, zurück. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Martha, einer Stillberaterin, schrieb er das Buch: „Das 24-Stunden-Kind“. Denn nach fünf unproblematischen Kindern, die so erzogen wurden, wie es im Jahr 1950 alle machten, nämlich mit Füttern nach Plan, Kinderwagen und eigenem Babybett im Kinderzimmer, bekam das Ehepaar ein Baby, das man heute als klassisches Schreibaby kategorisieren würde. Ein Baby,
das schrie, sobald es keinen Körperkontakt mehr hatte. Und das ruhig und zufrieden war, wenn es getragen und gestillt wurde William Sears sah täglich in seiner Praxis unzufriedene Babys und unglückliche, übermüdete Eltern, die sich nicht trauten, ihr Baby auf den Arm zu nehmen, aus Angst es „zu verwöhnen“. Zu der Zeit galt Stillen in den USA als unnötig, ja geradezu schädlich. Sears und seiner Frau Martha war es zu verdanken, dass Stillen wieder gesellschaftsfähig wurde. Stillen wurde wieder zu dem, was es ist. Nämlich nicht nur Nahrung, sondern auch Trost, Zuwendung – und Bindung. In Deutschland hat sich die bindungsorientierte Elternschaft längst von dem ursprünglichen AP-Begriff gelöst und erweitert.

Zahlreiche prominente Vertreterinnen wie Nora Imlau, Julia Dibbern, Nicola Schmidt und Susanne Mierau setzen sich in Büchern, Blogs und Vorträgen für einen liebevollen oder auch „artgerechten“ Umgang mit Babys und Kindern ein. Und beziehen damit klar Stellung gegen eine Erziehung, die noch vor zehn Jahren toleriert wurde: nämlich Säuglinge zum Schlafen zu erziehen oder nach Stundenplan zu füttern. AP bedeutet in seiner natürlichen Erweiterung, die Kinder mit in Entscheidungen einzubeziehen. Oder sie sogar selbst entscheiden zu lassen, wann sie bereit für ihr eigenes Bett sind, oder für den Moment des Abstillens. Und es bedeutet auch, die oft anstrengenden, abenteuerlichen Phasen der ersten Jahre gemeinsam mit den Kindern zu durchleben. Die „Trotzphase“ beispielsweise
als das nehmen, was sie ist. Einen wichtigen Schritt zur Autonomie, zur Charakterstärke. Und nicht eine nervenzehrende Anstrengung, die man im besten Fall aushalten, im schlimmsten Fall unterdrücken und mit Bestrafungen kleinhalten muss.

Bestes Beispiel: der inzwischen (glücklicherweise) von der Bedeutungslosigkeit bedrohte Elternratgeber „Jedes Kind kann schlafen lernen“. Noch bis vor circa zehn Jahren schien es ganz normal, sein Neugeborenes so lange (natürlich nach Plan gestaffelt) in seinem Zimmer schreien zu lassen, bis es irgendwann übermüdet und wahrscheinlich ziemlich verzweifelt einschlief. Dem Erfolg dieses Elternratgebers verdankt die AP-Bewegung einen Großteil ihres Erfolgs in Deutschland. AP ist sozusagen die Anti-Haltung dazu. Gespeist aus der Überzeugung: wenn sich (gesunde, satte) Babys sicher gebunden fühlen, dann schlafen
sie auch. AP hört sich also eigentlich ziemlich normal an. Dass es aber mit großen Anstrengungen verbunden sein kann, zeigt die aktuelle Gegenbewegung der deutschen gut ausgebildeten Mittelschicht. Attachment Parenting, so der Vorwurf, sei zu anstrengend. Es sei rückwärtsgewandt. Es würde von Eltern verlangen, sich selbst und ihr eigenes Leben aufzugeben. Es sei zudem antifeministisch und wirtschaftlich eine Katastrophe (wie soll man schnell wieder in den Beruf einsteigen, wenn man die ganze Zeit stillen und tragen muss?). Dabei sind die Benefits für Kinder, die bindungsorientiert aufwachsen, inzwischen bewiesen. Kinder, sie sich auf ihre Eltern verlassen können, so die Bindungsforschung, sind psychisch stabiler, ausgeglichener und konzentrierter als Kinder, die sich alleingelassen oder nicht gesehen fühlen.

Es scheint, als  löse dieser doch eigentlich kurze Zeitraum, in dem ganz kleine Kinder tatsächlich auf eine feste und konstante Bindung zu ihren Eltern angewiesen sind, einen angstvollen Reflex bei vielen Eltern aus. Als sei die innige Bindung zu einem Kind bedrohlich für den Rest des Lebens. Und als wären alle Chancen –
wirtschaftlich, finanziell und überhaupt – dadurch verschenkt und verloren. So als müsse man vom ersten Tag nach der Geburt an, sich seiner Autonomie und Unabhängigkeit rückversichern.

Das kann man schade finden. Allerdings ist diese Gegenbewegung vor den Tatsachen der gesellschaftlichen Realität mehr als verständlich. Die hohen Mieten, die prekären Jobs, die kinderlosen Kollegen, die scheinbar problemlos Karriere machen… Der Großteil der Eltern sind heute darauf angewiesen, dass Vater und Mutter arbeiten. AP hat übrigens nichts damit zu tun, dass Eltern an ihren Kindern „kleben“ sollen und diese  durch jahrelanges Stillen (bis endlich nix mehr da ist) und Tragen (bis man krumm und bucklig ist) und gemeinsames Schlafen (bis das Kind endlich Abi hat) an sich zu binden.

Sondern damit, dass Kinder mutiger und selbstbewusster in die Welt gehen, wenn sie wissen, dass jemand verlässlich für sie da ist. Und noch etwas: Kinder, auf deren Bedürfnisse eingegangen wird, die spüren, dass es in Ordnung ist wie sie sind, wachsen doch ganz automatisch in dem Bewusstsein auf, dass es normal ist,
auch das zu sehen und zu respektieren, was andere Menschen möchten und brauchen. AUCH die Bedürfnisse ihrer eigenen Eltern. bw // Fotos: fotolia

1. Dezember 2017