Wie sieht die „Bildung der Zukunft“ aus?

Bildung funktioniert nicht mehr wie früher, sagt der Zukunftsforscher Peter Spiegel. Statt Wissen wissen ist ihm zufolge heute Lernen lernen angesagt und zwar in allen Lebensphasen.

Frontal-Unterricht? Fehlanzeige! Im „Klassenzimmer der Zukunft“ auf der Frankfurter Buchmesse ist Ausprobieren, Selbstentdecken und Zusammenarbeiten angesagt: Räumliche oder organisatorische Begrenzungen wie Wände oder klassische Schulfächer haben sich aufgelöst. Über Mikroskope gebeugt sucht eine Gruppe von Teenagern nach Hinweisen, wie der Klimawandel das Muschelwachstum verändert. Der Nachbartisch ist übersät von Papierschnipseln. Hier haben Schülerinnen ein filigranes Schattenspiel gebastelt, das sie stolz vorführen. Aufgeregt schnattern vier Grundschulkinder vorbei – sie nehmen gleich ihre eigene Nachrichtensendung auf. So oder so ähnlich könnte der Schulalltag bald aussehen, glauben die Macher der Buchmesse. Gemeinsam mit Partnern wie Lego Education, RTL Hessen und dem Bremer Leibniz-Zentrum für Marine Tropenökologie haben sie das Klassenzimmer der Zukunft eingerichtet.

„Alles nicht neu, kennen wir längst“, werden Kritiker einwenden. Recht haben sie – aber nur zum Teil. Tatsächlich wird viel über neue pädagogische Ansätze nachgedacht, geforscht, geschrieben. Die Praxis jedoch hinkt der Theorie hinterher. Zwar kommt Bewegung in die deutsche Bildungslandschaft, immer mehr Schulen öffnen sich, experimentieren mit neuen Unterrichtsmethoden. Trotzdem sind sie noch die Ausnahme von der Regel. Aktionen wie die auf der Buchmesse machen da Lust auf mehr, zeigen sie doch, wie sich Lernen auch anfühlen kann.

Ziemlich gut fühlt es sich an für Chiara und ihren Kolleginnen: Experiment geglückt! Die Elftklässlerinnen aus Frankfurt haben einen Roboter so programmiert, dass er einen Gegenstand hochhebt und in ein vorbereitetes Zielfeld bringt. Anleitung haben sie bekommen, wenn sie sie brauchten. Haben sie sich vorher schon mal mit Robotik beschäftigt? „Nö, aber es macht total Spaß!“, sagt Chiara. Was sie gelernt hat und die Art wie das Wissen vermittelt wurde, hat sie überzeugt. „Das ist es doch, was wir später brauchen und nicht das, was wir momentan in der Schule lernen“, sagt die Schülerin.

Peter Spiegel würde da wohl zustimmen… „Bildung funktioniert nicht mehr wie früher“, sagt der Zukunftsforscher aus Berlin, der unter anderem das Thema Lernen in den Mittelpunkt seines Tuns gestellt hat. „Deshalb müssen wir jetzt das System anpassen.“ Bildung nur mit Wissenserwerb gleichzusetzen, greift ihm zufolge viel zu kurz. Immer wichtiger werden soziale, digitale und auch unternehmerische Kompetenzen. „Im Internetzeitalter ist der Zugang zu Wissen ein komplett anderer als zu der Zeit, als unser Bildungssystem erfunden wurde. Lernen auf Vorrat funktioniert nicht mehr“, sagt der 62-Jährige. Er verordnet stattdessen: Das Lernen lernen – und zwar lebenslänglich.

Dass das funktioniert, und dass es möglich ist, innerhalb des überholungsbedürftigen Systems neue Kräfte freizusetzen, zeigt das Beispiel der Evangelischen Gemeinschaftsschule Berlin-Zentrum. Schüler haben dort gemeinsam mit der Schulleiterin Margret Rasfeld eine Fortbildung entwickelt, in der die Jugendlichen den teilnehmenden Lehrern beibringen, wie man Schüler am besten motiviert. Mehrere 10 000 Pädagogen haben an diesen Veranstaltungen bereits teilgenommen. Verkehrte Welt? Von wegen! Ein Beweis dafür, dass auf gleicher Augenhöhe viel Kreativität entstehe, findet Peter Spiegel. In Deutschland beobachtet er eine wachsende Szene, die solche kreativen Ansätze umsetzt.

Im kommenden Sommer will Spiegel gemeinsam mit der Metropolregion Rhein-Neckar im Mannheimer Rosengarten einen „Bildungsgipfel“ veranstalten, eine „Leitkonferenz für Bildungsinnovationen in allen Lebensphasen und allen gesellschaftlichen Bereichen“, wie er ankündigt. Die Veranstaltung soll eine Plattform bieten für gute Beispiele aus der Praxis. Das Ziel: Gelingende Bildung sichtbar und nachahmbar machen. Aus einer Position der Stärke heraus sei Deutschland selbstgefällig geworden, auch in Bildungsfragen, „das macht träge und immunisiert gegen die Beschäftigung mit den Anforderungen der Zukunft“, warnt Spiegel. Sein Rat: „Runter vom hohen Ross und weltweit umschauen nach guten Beispielen für gelingende Bildung!“

„Es geht um eine fundamentale Aufwertung der Lehrer-Rolle“

image001StadtLandKind: Herr Spiegel, Ihr Ziel ist es, Bildung zukunftsfähig zu machen – reicht es dafür, auf gute Beispiele zu setzen, die Nachahmer finden sollen? Muss man nicht auch auf politischer Ebene ansetzen?

Drei Komponenten müssen zusammen kommen, um substanzielle Veränderung zu bewirken: Es muss Pioniere geben, die beispielgebend zukunftsweisende Bildung umsetzen. Zum zweiten müssen Lehrer, Schüler, Studenten, Eltern und möglichst auch die engagierte Zivilgesellschaft und Wirtschaft auf dieser Grundlage ihre Stimme vernehmbar erheben und sagen: Diese neue Bildung wollen wir für uns alle! Und natürlich bedarf es in diesem Kontext auch der Ansprache der politischen Entscheidungsträger. Nach längeren Phasen der politischen Starre in längst überholten Bildungskonzepten kommt in jüngerer Zeit Bewegung in die Entscheidungen der Kulturbürokratie. Sie geben immer mehr Raum frei für mehr Selbstverantwortung und Gestaltungsfreiheit der Schulen.

Den Wunsch nach Veränderungen im Bildungssystem fassen viele Lehrer als Kritik an ihrer Arbeit auf.  Wie wollen Sie es schaffen, die Pädagogen auf Ihrem Bildungsgipfel mit ins Boot zu holen?

Niemand bekam die Unzufriedenheit mit dem Bildungssystem stärker ab als die Lehrerinnen und Lehrer. Ich verstehe, dass sie zunächst für sich geklärt haben möchten, ob der neue Aufbruch nicht nur die nächste Welle der Kritik an ihnen ist. Sie ist es nicht. Sie ist ganz im Gegenteil die Befreiung der Lehrer von der Rolle verengter Wissenseinpauker zu umfassenden Lernbegleitern. Es geht um eine fundamentale Aufwertung ihrer Rolle, aber ebenso der Rolle vieler anderer Akteure, unter anderem auch der Lernenden selbst, sei es in der Schule, Universität oder im Beruf.

Kinder und Jugendliche gehören zu den Haupt-„Betroffenen“ in Sachen Bildung. Gibt es Überlegungen, ihren Ideen und Wünschen noch mehr Raum zu geben?

Schülerinnen und Schüler spielen in sehr vielen der neuen Bildungsprojekte eine ausgesprochen aktive Rolle. Peer-to-Peer-Learning, also das Lernen von Gleichaltrigen, Teamlernen, Projektlernen, also das Lernen in praktischen Projekten in der Zivilgesellschaft oder in Unternehmen, greift immer weiter um sich. Klar, dass auch beim Bildungsgipfel in Mannheim die unmittelbar „Betroffenen“ aktiver Teil des gemeinsamen Lernens sind, wie wir gemeinsam eine zukunftsstarke Bildung gestalten können.

Text und Bild: Nicole Pollakowsky 

 

Zur Person: Peter Spiegel

Peter Spiegel, 1953 in Würzburg geboren, lebt in Berlin und ist Vater von drei Kindern und Opa von fünf Enkeln.

Der studierte Soziologe hat diverse Initiativen gegeründet, die sich mit sozialen Innovationen befassen. Seit August 2008 leitet er  in Berlin das Genisis Institut, einen Think-Tank, also eine Denkwerkstatt, zum Thema Social Business. Ausgangspunkt ist die Frage: Wie lassen sich unternehmerisches Handeln und die Lösung sozialer Probleme intelligent miteinander verknüpfen?

2007 organisierte Spiegel erstmals die internationale Zukunftskonferenz „Vision Summit“ – damals als eine Art Gegenveranstaltung zum G8-Gipfel in Heiligendamm – die seitdem jährlich stattfand.

Der EduAction Bildungsgipfel vom 30. Juni bis 2. Juli 2016 in Mannheim ist die Nachfolgekonferenz des Vision Summit für Bildungsinnovationen. npo

 

 

17. November 2015
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