„Gott ist doch kein Kidnapper“

Wenn Kinder jemanden verlieren, den sie lieben, dann trauern sie ganz anders, als Erwachsene es erwarten. Trauern ganz kleine Kinder überhaupt schon? Wir haben uns mit der Autorin und Trauerbegleiterin Mechthild Schroeter-Rupieper über Trauerbegleitung für Kinder und Familien unterhalten.

Sehr geehrte Frau Schroeter-Rupieper, können schon ganz kleine Kinder überhaupt trauern? Sie verstehen doch noch nicht, was es bedeutet, zu sterben.

Die Fähigkeit des Trauerns ist angeboren. Trauer gehört zu den menschlichen Basisgefühlen, wie fröhlich sein, wütend sein, sich ekeln. Wir brauchen diese angeborenen Fähigkeiten, damit unser Leben gelingen kann. Traurig sein können benötigen wir, um  Verluste überwinden zu können. Schon sehr kleine Kinder können demnach trauern, aber sie verstehen noch nicht, warum sie traurig sind. Sie spüren die Traurigkeit um sich herum. Wenn man dann nicht mit ihnen spricht, sind sie irritiert. Außerdem sind angeborene Gefühle ansteckend. Sie spüren zum Beispiel ganz genau, wenn die Mutter/der Vater traurig sind. Es ist deshalb gut, auch bei ganz kleinen Kindern authentisch zu sein und die eigene Trauer offen zu zeigen.

Mit circa sechs Jahren begreifen sie, dass jeder Mensch sterben muss. Aber dass es für immer ist, können sie da immer noch nicht verstehen. Deshalb ist es so wichtig, nichts zu beschönigen oder sich unklar auszudrücken. Nicht einfach sagen: „Die Mama ist weggegangen“. Oder: „Gott hat sie zu sich geholt“. Gott ist doch kein Kidnapper!

Wie reagieren kleine Kinderauf den Verlust eines nahen Menschen?

Sie suchen und sie warten. Sie machen das, was sie sonst auch machen, wenn jemand nicht wiederkommt. Wann kommt endlich wieder?, fragen sie dann permanent. Und: „Sollen wir ihn nicht suchen gehen?‘ Wenn sie keine Erklärung erhalten, dann glauben sie, dass sie verlassen wurden. Man muss es ihnen eigentlich immer wieder sagen. Immer wieder begreifbar machen, mit Beispielen, die sie kennen. Auf die sie zurückgreifen können. Zum Beispiel: ‚Weißt Du noch, als wir den toten Vogel gefunden und beerdigt haben…!‘ Je kleiner das Kind ist, umso wichtiger ist es, ihm den Tod begreifbar zu machen. Wir können kleinen Kindern den Tod nicht mit Worten erklären. Sie müssen ihn sehen, hören, anfassen. Deshalb ist es wichtig, dass sie sich verabschieden können und das tote Elternteil anfassen und anschauen können. Um zu begreifen: ‚Papa hat mich ja gar nicht einfach verlassen, er ist gestorben‘.

Trauern Kinder anderes als Erwachsene?

Kinder trauern altersentsprechend. Mit drei Jahren verstehen sie fast gar nichts, sie reagieren nur. Mit sechs Jahren kommt der Negierung. Sie sagen klar: ‚ich will nicht dass der tot ist‘, oder: ‚Im Urlaub ist er dann aber wieder dabei, oder?‘ Mit acht Jahren begreifen sie: alle haben eine Mama nur ich nicht. Und ab circa 12 Jahren begreifen sie die volle Dimension. Was es heißt, dass jemand wirklich für immer weg ist und sie ihr Leben ohne diese Person leben werden.

Wie stellen sich Kinder den Tod vor – gibt es hier Unterschiede von Mädchen und Jungen?

Kinder denken an den Tod wie an einen langen Schlaf, aus dem man nicht mehr aufwacht. Wenn sie sich den Himmel vorstellen, dann gibt es hier natürlich Unterschiede in der Ausstattung. Mädchen stellen ihn sich vielleicht rosa vor und bei Jungen ist er gefüllt mit ihren Spielsachen. Sie trauern unterschiedlich, weil sie unterschiedlich erzogen werden. Das hat nichts mit Biologie zu tun. Alle Jungen und Mädchen sind mit der Fähigkeit geboren zu trauern. Im ersten Schuljahr ändert sich das. Da hören Jungen auf zu weinen. Sie zeigen Trauer nicht mehr öffentlich, sie kontrollieren sich und verlernen so zu trauern. Und wenn ihnen dann später etwas Schlimmes passiert, wenn zum Beispiel ihre Partnerin stirbt, dann wissen sie oft nicht wie sie damit umgehen sollen. Sie kommen dann in die Trauerbegleitung und fragen: wie kriege ich das wieder weg? Meine Antwort: ‚das geht nur mit Trauern‘. Wer nicht weinen oder der Trauer angemessen Ausdruck geben kann, der sucht dann oft Hilfe in Drogen, im Alkohol oder schlägt etwas kaputt, weil er diese Trauer nicht „wegbekommt“.

Warum ist Trauerbegleitung bei Kindern und Jugendlichen so wichtig?

Damit sie einen Raum haben, um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Unsere Gesellschaft bietet das ja leider nicht mehr. Und Kinder haben schnell die Haltung von der Gesellschaft übernommen, dass man sein Gegenüber vor der Ansteckung mit dem Traurigsein schützt. Deshalb wollen sie mit ihrer Traurigkeit z.B. nicht die Mama belasten und ahnen nicht, dass es für die Mama viel trauriger ist, erst im Nachhinein zu hören, wie traurig und alleine ihr Kind in manchen Zeiten war.

Eltern neigen dazu, ihre Kinder beschützen zu wollen. Das gilt auch für schlechte Nachrichten. Sollte man von Anfang an ehrlich sein, oder vielleicht erst einmal ablenken?

Von Anfang an ehrlich sein! Es wäre unfair, wenn alle anderen Bescheid wissen, nur das Kind nicht. Es spürt ja, dass etwas anders ist. Auch wenn ein Suizid erfolgt ist: sofort sagen! Mit klaren offenen Worten. Aber natürlich kindgerecht. Alle wichtigen Sachen, die die Familie betreffen, müssen auch alle wissen. Sonst fühlt sich das Kind ausgeschlossen.

Ab welchem Alter sollten Kinder mit auf die Beerdigung gehen dürfen? 

Ab jedem Alter. Schon im Bauch der Mama.

Zum Weiterlesen von Mechthild Schroeter-Rupieper: Für immer anders – Das Hausbuch für Familien in Zeiten der Trauer und des Abschieds, Schwabenverlag 2012, 18.- Euro. 

Geschichten, die das Leben erzählt: weil der Tod sie geschrieben hat, Patmos  2017, 17.- Euro 

Interview: Bettina Wolf // Foto: pixabay

1. März 2018