„Psst!“ war gestern. Bibliotheken heute

BibliothekStadtbüchereien haben sich verwandelt. Aus den spaßfreien Ausleihstätten sind Wohlfühlorte für alle geworden, an denen man lesen, lernen, diskutieren, spielen oder einfach nur da sein kann – ganz ohne Rechtfertigungszwang.

„Geschafft! Der Drache hat mich nicht gefressen.“ Stapelweise habe ich als Kind Bücher aus der Bibliothek unserer Kleinstadt getragen – und war jedes Mal sehr erleichtert, wenn ich wieder draußen war. Denn vor den Lesespaß hatte die Stadtverwaltung die Bibliothekarin gesetzt. Ein fleischgewordenes Pssst! mit brauner Strickjacke, Dutt und Augenbrauen, die missbilligend in die Höhe schnellten bei jedem Buch, das sie mit Rückgabestempel versah. Kein Zweifel: Tina und Tini, George und Timmy, Tarzan, Karl und Klößchen – das waren vielleicht meine Helden, aber ganz bestimmt nicht ihre.

30 Jahre ist das her und gefühlt Welten entfernt von diesem Mittwochvormittag im Herbst 2015. Die zweite Etage im Stadthaus in N1, Hauptstelle der Stadtbibliothek Mannheim, ist erfüllt von friedlichem Stimmengemurmel. Freundlich erklärt eine Mitarbeiterin einer älteren Dame die Suchfunktion am PC. Weiter hinter, in einem etwas abgetrennten Bereich, bekommt eine Schülergruppe eine Einführung. Thema: Wie funktioniert Bücherei? Die Jugendlichen sind aufmerksam bei der Sache. Vielen hört man an, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache ist. Ein bisschen linkisch streifen die Jungs wenig später durch die Regalreihen, witzeln, rempeln sich an in der offenbar ungewohnten Umgebung. Ob sie wiederkommen? Bernd Schmid-Ruhe hofft es. Der Leiter der Mannheimer Stadtbibliothek will mit dem Angebot seines Hauses ein möglichst breites Publikum ansprechen. Vor-Ort-Arbeit sowie eine gute Vernetzung mit anderen Organisationen und auch mit Schulen werden dafür immer wichtiger, sagt er. „Die Stadtbibliotheken treten heute als Bildungseinrichtungen auf und leisten zunehmend pädagogische Arbeit“, beschreibt er das neue Selbstverständnis seiner Zunft.

Auf die rasanten Veränderungen in der Medienwelt reagieren die Bibliotheken nicht nur mit der Erweiterung ihres Angebots um E-Books und Internet-Arbeitsplätze, sondern auch mit vielfältigen Informations- und Fortbildungsveranstaltungen. Vom Medienelternabend über Gaming-Tage, Film- und Fotoworkshops sowie Referate-Coaching bis hin zur 3D-Druck-Sprechstunde reichen die Aktivitäten, mit denen die Büchereien die Medienkompetenz ihrer Besucher schulen, um sie fit zu machen für eine zunehmend digitalisierte Umgebung. Denn Lesenkönnen alleine reicht nicht mehr. „Mediennutzer müssen heute viel mehr Fähigkeiten mitbringen als früher. Wer nicht weiß, wie man einen E-Book-Reader bedient, kann auch nicht damit lesen“, so Bernd Schmid-Ruhe.

Doch nicht nur die Medienwelt selbst ist im Wandel. Auch die Art und Weise, wie die Besucherinnen und Besucher die städtischen Bibliotheken nutzen, hat sich verändert. Rein –Buch  ausleihen – raus und dabei bloß keinen Mucks machen? Das war einmal, damals in der Bibliothek 1.0. Die Bibliothek 2.0 ist anders – ein  Ort zum Sein, zum Wohlfühlen, zum Austausch. So sieht das auch Victor. Entspannt fläzt der 15-Jährige auf einem Sitzsack in der Jugendecke in der Stadtbücherei Heidelberg und blättert in einem Comicroman. Heute ist er alleine da. Manchmal kommt er zusammen mit seinen Geschwistern, um Bücher und Spiele auszuleihen. Manchmal trifft er sich hier mit Klassenkameraden zum gemeinsamen Lernen oder für Projektarbeiten.

„Die Funktion als Ort der Kommunikation und der kulturellen Aktivität hat wahnsinnig zugenommen“, sagt Christine Sass, Leiterin der Heidelberger Stadtbücherei. „Es gibt immer weniger Plätze, an denen man sein kann, ohne sich zu rechtfertigen und ohne konsumieren zu müssen. Die Bibliotheken sind so ein Platz und das wird unheimlich geschätzt.“ Third Space (dritter Raum) lautet der Fachbegriff für solche Orte an der Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. In den vergangenen Jahren sind sie immer seltener geworden. Mehr und mehr übernehmen die Büchereien ihre Funktion.

„In einer Zeit, in der vermeintlich alle Informationen überall abrufbar sind, könnte man  denken, der Ort wird unwichtig. Aber das Gegenteil ist der Fall“, hat Bernd Schmid-Ruhe beobachtet. „Anker-Orte sind ganz wichtig.“ Die Digitalisierung der Welt, so seine Vermutung, verstärke das Bedürfnis nach Geborgenheit und die Sehnsucht nach realen Orten, an denen man mit echten Menschen kommunizieren kann. Dabei komme es weniger auf Ästhetik an als auf Behaglichkeit und Bequemlichkeit. Wichtiger Faktor: Bei Familienbesuchen in der Bücherei sollten alle auf ihre Kosten kommen. Die Voraussetzungen dafür könnten in Mannheim besser sein. Die Tatsache, dass die Kinder- und Jugendbibliothek ebenso wie die Musikbibliothek nicht in N1 sondern im benachbarten Dalberghaus untergebracht sind, beschäftigen den Bibliotheksleiter und sein Team sehr. „Unser Wunsch wäre eine Vereinigung unter einem Dach“, so Bernd-Schmid-Ruhe.

Dass in den Büchereien neuen Zuschnitts kein silencium wie in einer Klosterbibliothek herrscht, liegt in der Natur der Sache. Zu Konflikten kommt es laut Bernd Schmid-Ruhe und seiner Kollegin Christine Sass trotzdem nur selten. „Sicher ist es lebhafter geworden. Aber wir achten auf einen Interessensausgleich und versuchen zum Beispiel verschiedene Zonen einzuteilen“, sagt Sass. Und so stört es auch niemanden, wenn in der Heidelberger Bücherei der kleine Moritz sein Stimmchen erhebt, um seine Mama wortreich zum Puzzeln aufzufordern. In der Kinderabteilung mit ihrem langgestreckten grünen Sofa und den Kuschelecken fühlen sich der Zweieinhalbjährige und sein jüngerer Bruder Theo sichtlich wohl. Ihre Mutter Ann-Kathrin Günter weiß es zu schätzen: „Wo findet man in der Stadt sonst einen Ort, an dem man mit kleinen Kindern mal kurz runterkommen und auftanken kann?“ npo

Prototyp der Bibliothek 2.0 in Stuttgart

Dass etwas in Bewegung geraten ist in der Bibliotheken-Landschaft, sieht man in manchen Fällen schon von außen. Zum Beispiel in Stuttgart. 2011 hat sich die baden-württembergische Landeshauptstadt eine neue Zentralbibliothek gegönnt: 40 Meter hoch ragt der markante Neubau in unmittelbarer Nähe zum umstrittenen Stuttgart21-Areal in die Höhe. Nachts leuchten alle Fenster des weißen Kubus blau. Das außergewöhnliche architektonische Konzept setzt sich in dem fantastisch-futuristisch anmutenden Inneren des Gebäudes fort – und findet sein Pendant in einem zukunftsträchtigen bibliothekarischen Ansatz, für den die Einrichtung 2013 den Titel „Bibliothek des Jahres“ erhielt. Immer wieder stehen in den Regalen zwischen den Büchern auch Notebooks. Mit ihnen oder mit eigenen Geräten können die Besucher auch den digitalen Bestand nutzen. Eine Besonderheit des Hauses ist die Graphothek im 8. Stock: Über 2500 Originalgrafiken stehen hier für Kunstliebhaber zum Ausleihen bereit. Ein anderes Schmankerl: die Bibliothek für Schlaflose – ein „intelligenter“ Medienschrank, der rund um die Uhr mit einem wechselnden Medienangebot aufwartet.

npo // Foto: Stadtbibliothek Stuttgart

 

3. Dezember 2015
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