Mehr Annika als Pippi

Es ist inzwischen ein paar Jahre her, da hörte ich – beim Abholen im Kindergarten – zwei Mütter in der Garderobe plaudern. Ich selbst war gerade dabei, im „Liegengelassen-Schrank“ nach dem Lieblings-Glitzershirt der Tochter zu wühlen. Es war Hochsommer und ich war vom Suchen nach kürzester Zeit hochrot im Gesicht. Meine 5-jährige Tochter saß zufrieden an ihrem Garderobenplatz und beobachtete mich. Sie hatte an diesem Tag drei Kuscheltiere als Begleiter dabei, statt wie sonst eins, und redete leise mit ihnen. „Ich glaube wirklich, mit dem Kind stimmt etwas nicht“, hörte ich plötzlich die eine Mutter sagen. „Es hat ein Trauma oder sogar Depressionen.“ Die andere stimmte besorgt zu. „Absolut. Sie redet einfach nicht. Gestern habe ich sie gefragt, ob sie mal zum Spielen vorbeikommen will, und sie hat mich nur teilnahmslos angestarrt. Das ist bestimmt selektiver Mutismus. Genau aus diesen Kindern werden später dann Nerds!“

Nur kurz und unkonzentriert überlegte ich, um wen es wohl gehen könnte (mir kam das Verhalten des Kindes nicht ungewöhnlich vor, denn ich hatte auch immer etwas Angst vor der lauten und organisierten Stimme dieser Mutter, abgesehen davon kannte ich den Begriff „selektiver Mutismus“ damals noch nicht), dann ging ich mit meiner süßen, schweigsamen Tochter nach Hause. Ohne das Glitzershirt. Ich konnte meinem Kind deutlich ansehen, dass sie einen anstrengenden, aber schönen Tag voller Erlebnisse gehabt hatte und sich jetzt auf die Ruhe ihres Kinderzimmers freute. Zuhause stieg sie träumend ein – in ihre Welt aus „Schleich-Pferden“ und unsichtbaren Gefährten und spielte so bis zum Abendessen. Wochen später wurde mir dann klar (durch die freundliche  Vermittlung einer dritten Mutter): die Beiden hatten über mein Kind gesprochen.

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Über ihre Schüchternheit hatte ich schon länger nachgedacht, aber war das wirklich noch schüchtern? Oder hochsensibel? Oder krank? Aber: Wenn es darauf ankam, konnte sie – auch ohne Worte – ihre Position klarmachen. Sie beobachtete ihre Umwelt ganz genau und konnte sich selbst gut einschätzen. Wer in ihrem Umfeld Hilfe brauchte, bekam sie. Aber alleine (ohne uns) ins Zeltlager fahren, einkaufen gehen, auf Kindergeburtstage gehen, ohne Rückzugsort … fiel ihr schwer. Inzwischen meiden wir den Begriff schüchtern. Es gibt eben auch stille, zurückhaltende Kinder.

„Sie ist nun mal introvertiert“, stellte der Kinderarzt fest. „Sie müssen sie positiv bestärken und bedenken, dass Ruhe für diese Kinder oft die einzige Möglichkeit ist, Kraft zu schöpfen. Und denken Sie mal zurück: Sind Sie selbst gerne ins Zeltlager gefahren?“ Tatsache ist: Ich bin nicht nur nicht gern gefahren, ich bin GAR nicht gefahren. Während sich meine jüngeren Brüder schon in der Grundschule allein ins Ski-Camp aufmachten, blieb ich lieber zuhause, um zu lesen. „Wenn Eltern selbst eher vorsichtig sind, was soziale Situationen angeht“, so unser Kinderarzt, „werden introvertierte Kinder ebenfalls immer vorsichtiger. Diese Kinder machen sich Sorgen, sie könnten von anderen Menschen negativ bewertet werden. Manchmal werden solche Ängste so groß, dass sie die Entwicklung bremsen, den Alltag und das Wohlbefinden beeinträchtigen.“ Im Gegensatz zur genetischen Disposition der Introversion gilt Schüchternheit heute als eine erlernte Eigenschaft, die auf negativen Erfahrungen basiert und alle betreffen kann. Der Begriff Introversion geht auf den Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung zurück und stammt aus den 1920er-Jahren. Laut Jung wenden introvertierte Menschen ihre Aufmerksamkeit und ihre Energie stärker nach innen, während sich extrovertierte mehr nach außen orientieren. Introvertierte Kinder fühlen sich in großen Gruppen schnell unwohl, in Gesprächen zu zweit blühen sie auf. Sozial fühlen sie sich schnell erschöpft oder ausgelaugt und haben das Bedürfnis nach Rückzug und einer ruhigen Umgebung. Während Introversion und Extraversion für Jung wertfreie Begriffe waren, haben in sich gekehrte Menschen in den letzten Jahrzehnten ein negatives („nerdiges“) Image bekommen. Introversion und Extraversion sind Veranlagungen, die sich nicht ablegen lassen. Aber: Was die Kinder daraus machen, wie sie zurechtkommen, liegt zum großen Teil an ihrer Umgebung.

„Mama, können wir los?“ Die Tochter greift ungeduldig nach meiner Hand. Wir verlassen die Praxis eines neuen Kinderarztes. Ratlos schaue ich auf das ausgestellte Rezept zur „Klopftherapie“ gegen Blockaden. Wieder ein neuer Begriff … „Mama, los, auf nach Hause. Ich will chillen und du kannst an DEINEM Selbstbewusstsein arbeiten, hat der Arzt gesagt.“ Alles klar. Mache ich.

bw // Foto: Adobe Stock