6:45 Uhr ist zu früh, um Kinder anzulügen

Kinder anzulügen

„Waren da auch Kinder dabei?“, fragt mich der Elfjährige. Schaut mich an, reibt sich die Augen. Das Kindergesicht noch ganz weich vom Schlaf. Die Haare zerzaust. 6:45 Uhr ist  zu früh, um Kinder anzulügen.
„Ich weiß es nicht.“
Ich möchte mir nicht vorstellen was es sich vorstellt. Auf dem Weg zur Schule.

Nach der Schule: „Habt ihr da drüber gesprochen?  In der Schule?“, frage ich das Kind.
Haben sie nicht. Jedenfalls nicht im Unterricht. Aber sie haben mit Kastanien geworfen. Auf dem Schulhof. Gegen die in der Achten. Das erfahre ich ausführlich. Von dem Eintrag ins Klassenbuch erfahre ich nichts.
„Aber da ist jetzt ganz viel Polizei“, sagt das Kind. „Wo?“, frage ich das Kind. „Na, in der Stadt und auf dem Weihnachtsmarkt. Und da haben sie so Absperrungen hingebaut.  Die sind aber viel zu niedrig“.
„Wer hat dir das erzählt?“, frage ich das Kind.  „Niemand, ich hab‘s gesehen. In der Mittagspause.“

Am Abend: „Hast du eigentlich Angst?“, frage ich das Kind. Das hab ich gelesen. Irgendwo in der nicht endenden Flut der Artikel auf meiner Social-Media-Timeline stand auch das Interview mit dem Psychologen. Das ist immer so. Wenn etwas Schlimmes passiert. Dann kommt irgendwann das Interview mit dem Psychologen, der gefragt wird, wie man den Kindern am besten das Schlimme erklärt. Und wie man sich als Erwachsener verhält. Richtig verhält. Versteht sich.

„Hast Du? Angst?“, frage ich das Kind. Es schüttelt den Kopf. „Nö. Das wollen die doch. Dass man Angst hat. Also darf man keine Angst haben.“

„Wer sagt das?“, frage ich das Kind? „Du. Du hast das gesagt. Beim letzten Mal.“ Das Kind stellt Legofiguren in den Adventskranz, bohrt mit dem Laserschwert von Prinzessin Leia im heißen Wachs. „Lass das!“, schimpfe ich.
„Deshalb waren wir heute Mittag auch nicht beim Inder. Sondern wir haben uns auf dem Weihnachtsmarkt ein Würstchen gekauft“, sagt das Kind und haut Darth Vader mit Leia einen auf den Helm. Wachs spritzt.
Dann fragt es: „Weißt du jetzt, ob da Kinder dabei waren? Unter dem Lkw?“

(Ich muss rausgehen. Kurz. Nur ganz kurz.)

shy

21. Dezember 2016