Bullerbü, reloaded

Bullerbü

„Waaas? Schon wieder Fotos machen? Nö! Keine Lust!“ Eigentlich schlenderte die Meute der fünf oder sechs Jungen gerade zum Frühstück, da wollte der Fotograf plötzlich Fotos machen. Schnell stob die muntere Gruppe auseinander. Mädchen sind gerade auch keine zu sehen. „Die bereiten das Frühstück vor“, erklärt uns einer der Schüler hilfsbereit. Ah ja. Lehrer Guido Schöneberg gießt währenddessen in aller Ruhe die frisch gepflanzten Blumen. „Die Kinder wollen nun mal gerade nicht“, erklärt er freundlich.

Wir hatten bisher tiefenentspannt in der wunderbar mit Schurwolle gedämmten mongolischen Jurte, dem Zentrum der neu gegründeten „Freien Schule Laubenhöhe Waldorfschule Mörlenbach“ beim Gespräch gesessen. Die weiße luftige Jurte steht inmitten wunderbar grüner Wiesen. Obstbäume und eine Weide mit Pferden schließen sich an. Der Blick von hier reicht weit über Mörlenbach und man hört kaum ein Geräusch – abgesehen vom Zwitschern der Vögel und den Kindern natürlich. Bullerbü könnte nicht schöner sein. Elf Kinder besuchen zurzeit den ersten Jahrgang der Schule. Hier wird jahrgangsübergreifend unterrichtet. Deshalb gibt es hier keine Klassen, sondern ‚Lerngruppen‘. Es gibt auch keine Pausen, sondern Freispiel-Zeit. Und auch sonst läuft hier vieles anders als in einer „normalen“ staatlichen Grundschule. Freier geht es hier zu, mit viel Bewegung, immer auf die Bedürfnisse der jeweiligen Kinder abgestimmt und auch auf das, was so anliegt. Gestern zum Beispiel fand der Unterricht komplett im Freien statt. Eine der Familien hatte der Schule einen großen Stapel Holz geschenkt, der musste natürlich untergebracht werden. Alle Kinder packten mit an und lernten – wie nebenbei – eine Menge über Mathematik. Die Kinder hatten sich überlegt, aus dem Material eine Bienenbeute zu bauen. Die muss natürlich exakt ausgemessen werden, die Winkel müssen berechnet werden, die Menge an Material wurde festgelegt, der Plan gezeichnet. Wie praktisch, dass Waldorflehrer Guido Schöneberg
auch ausgebildeter Zimmermann ist.

Waldorfschule, zeitgemäß interpretiert

Für den Indoor-Unterricht wurde für den Anfang ein Klassenzimmer an der Förderschule Mörlenbach angemietet. Auch hier fällt gleich auf, dass es kein ‚normaler‘ Klassenraum ist. Es gibt zwar eine Tafel, an der die 3-er-Reihe erläutert wird, aber weder Tische noch Stühle. Dafür Bänke und Sitzkissen. Beides kann je nach Anlass auf- und umgebaut werden. In Reihen, im Kreis oder auch gestapelt. „Der Bewegungsdrang der Kinder von heute ist unglaublich groß, erzählt Schulgründungsmitglied Sophia Hutwagner. „Je mehr Input sie bekommen – durch die permanente Präsenz der Medien und durch ihren vollen Alltag – desto mehr muss auch wieder raus- entweder durch Bewegung oder durch Lautstärke. Dem kommen wir durch die offene und bewegliche Form entgegen.“

Bereits im Kleinkindalter ihrer Kinder hätten sie und andere Eltern nach einer Alternative zur Regelschule gesucht. „Uns war relativ schnell klar, dass es eine Waldorfschule sein sollte, aber eine Waldorfschule ‚zeitgemäß interpretiert‘“. Und täglich nach Heidelberg oder Mannheim in die dortigen Waldorfschulen fahren? Das wäre für manche Elternhäuser nicht zu schaffen gewesen. Der Gedanke, eine eigene Schule zu gründen, nahm immer mehr Gestalt an. Aufrufe in der Tageszeitung erzielten sofort große Resonanz, die Idee wurde immer konkreter. Intern wurde viel und intensiv diskutiert. Wie soll die ideale Schule aussehen? „Unsere Ausgangsfrage war“, so Hutwagner, „was braucht die Gesellschaft? Was muss eine Schule heute leisten, damit sie die Gesellschaft besser macht.“

Biologie in Echtzeit

Die erste Lerngruppe konnte 2017 starten, zuerst in einer so genannten Balkonklasse an der Schule in Darmstadt. Im März 2018 kam dann endlich die Genehmigung und seitdem ist die Schule oberhalb von Mörlenbach fester Bestandteil der regionalen Schullandschaft. Und die Nachbarn? Hatten die keine
Bedenken? „Die Zustimmung, dass wir das Gelände pachten dürfen, wurde im Gemeinderat einstimmig beschlossen, erzählt Hutwagner. „Natürlich hatten einige der Anwohner Sorgen und wir haben deshalb auch auf Teile ‚unseres‘ Grundstücks verzichtet. Wir hatten eigentlich vor einen Schulgarten weiter oben zu gestalten, aber das wäre sehr dicht an den Häusern gewesen. In Absprache mit dem Bürgermeister haben wir dann darauf verzichtet.“ Bevor der eigentliche Schulbau in ein, zwei Jahren beginnen wird, plant die Schulführung so genannte Schulcontainer aufzustellen. Damit dann der eigentliche Bau in aller Ruhe und nach den ökologischen und ästhetischen Vorstellungen umgesetzt werden kann. Die baubiologisch autarke Schule soll sich in die Landschaft und in die Natur einfügen, geplant sind lichte und freundliche Klassenzimmer. Die Gebäude sollen sich mit Solarstrom versorgen und komplett begrünt sein. „Auch mit der Planung des Baus ist uns wichtig unseren Kindern zu vermitteln: Wir sorgen mit der Planung dieses Gebäudes für unsere Erde und damit für eure Zukunft.“ Der Schultag beginnt hier um 8.30 Uhr und endet um 13 Uhr. Geplant ist eine Nachmittagsbetreuung, aber das muss natürlich auch alles finanziert werden. Bisher wurden sämtliche Kosten durch Spendengelder gedeckelt, das einkommensabhängiges Schulgeld hat eine soziale Komponente: Jedes Elternhaus zahlt so viel es kann und deckt gerade mal so die Personalkosten der zwei festangestellten Lehrer und der einen Honorarkraft.

Am Anfang stand der idealistische Wunsch, einen Ort zu schaffen, an dem sich Kinder gerne aufhalten, an dem sie alles zum Lernen vorfinden, begleitet von sinnvoll tätigen Erwachsenen. Dafür setzen sich nicht nur die Gründungsmitglieder mit viel persönlichem Einsatz täglich ein, auch der Klassenlehrer Guido Schöneberg gab seinen „sicheren Job“ an einer Schule in Darmstadt auf und ließ sich auf das Projekt Schulgründung ein. „Unser Ausgangspunkt war die Überlegung“, so Gründungsmitglied (im ‚echten‘ Leben auf SAP spezialisierte Projektleiterin) Heike Schmoll, was brauchen Kinder, um in der sich so rasant ändernden Welt zu bestehen. Heute gibt es so unglaublich viel Wissen, das jederzeit und sofort abrufbar ist. Der Druck, alles zu wissen, nimmt zu. Und nicht umsonst nehmen auch Schulangst und Burnout bei Kindern im Grundschulalter zu. Dabei kann niemand alles wissen. Wir können unseren Kindern aber die Fähigkeit und die Stärke mitgeben, neugierig auf alles zu sein.“

Die Kinder sind inzwischen vom Frühstück im Klassenzimmer zurück im Freien. Es wird noch mal nach dem Holz geschaut und sich kurz ausgeruht, dann geht es mit Guido Schöneberg ab in die Wiesen. Käfer untersuchen und Bäume bestimmen, Biologie in Echtzeit. „Am Leben lernen, als die konsequenteste Form der Pädagogik“, so Schöneberg.

bw // Fotos: mschi

Mehr zur Freien Schule Laubenhöhe Waldorfschule Mörlenbach gibt es im Netz unter freie-schule-weschnitz.de oder bei Sophia Hutwagner: 06209 7968504.

Anmeldungen für das kommende Schuljahr (1./2 Klasse und 3./4 Klasse) sind ab sofort möglich.

4. Juni 2018