Das Handy ist effektiver als eine elektronische Fußfessel

Handy
Wo bist du? Wann kommst Du? ist doch super praktisch, dass unsere Kinder per Handy permanent erreichbar sind. Wir meinen es doch nur gut…


Montag, 7:20 Uhr, mein Handy summt, der Bildschirm leuchtet: Neue Inhalte im Vertretungsplan verfügbar. Ein kurzer Blick: „5. und 6. Stunde Entfall!“, teile ich dem Elfjährigen fröhlich mit: „Kommst dann gleich heim, hm?“
Seine Begeisterung auf einer Skala von 1 bis 10 liegt gefühlt bei Minus 5.
Was hat er denn jetzt schon wieder?

Das ist doch super praktisch, dass es inzwischen quasi für alles eine App gibt. Vertretungsplan, Mittagessensbestellung – ach, letzteres mach ich auch gleich noch rasch online. Ich weiß doch, was ihm schmeckt.
Und es ist doch auch super praktisch, dass ich immer informiert werde, ob das Sporttraining wirklich stattfindet und wie lange.
Ich weiß nämlich alles.
Es ist doch auch super praktisch, dass ich in der Mütter-WhatsApp-Gruppe nachfragen kann, ob wirklich keine Hausaufgaben auf sind. Minuten später hab ich das Foto vom  – ups – vergessenen Arbeitsblatt auf dem Handy.
Ich meins doch nur gut.
Ich finde es eigentlich auch sehr praktisch, dass ich bei der Gelegenheit gleich von diesem Vokabeltest erfahre, von dem mir das Kind noch gar nichts erzählt hat – aus gutem Grund.
Ich will doch nur sein Bestes.

Und es ist ja aber super praktisch, dass wir das Kind sofort anrufen können, wenn es sich mal fünf Minuten verspätet. Es könnte ja was sein. Es könnte entführt worden sein oder einen Unfall gehabt haben oder wenigsten eine Panne mit dem Rad oder mit der Bahn und was ist wenn der Bus Verspätung hat….
Dass das Kind im Falle von Problem eins und zwei vermutlich zum Telefonieren nicht in der Lage ist und die Problem drei bis sechs besser selbstständig lösen sollte, das wissen wir zwar schon instinktiv. Wir Mütter.
Aber, ach…

Und es ist doch super praktisch, dass inzwischen jeder Zehnjährige ein Handy hat und permanent erreichbar ist. Natürlich, das mit den Überwachungs-Apps, die per Tracking anzeigen, in welche Richtung sich der Nachwuchs gerade bewegt, das finden wir aufgeklärten Mütter dann doch ein bisschen albern. Wir wollen das Kind ja nicht restlos kontrollieren – sagen wir  – und belügen uns selbst. Tun wir doch längst. Das Handy ist effektiver als jede elektronische Fußfessel. Von letzterer würden die Kinder sich spätestens in der Pubertät versuchen, zu befreien. Vom Handy wollen sie das gar nicht.

Das Handy ist alles. Es ist Spielzeug und Musiksammlung, es ist der Kontakt zum Freundeskreis, es ist unverzichtbar. Das Opfer, das unsere Kinder dafür bringen müssen:
Für Mama und Papa permanent erreichbar sein. Ein mieser Deal.

Ich gebe mir wirklich Mühe, meinen Kindern ihre Heimlichkeiten zu lassen. Aber es ist verdammt schwer. Ich weiß genau, dass mein Sohn manchmal das Mittagessen in der Schule schwänzt, stattdessen einen Abstecher in den nächsten Elektronik-Fachmarkt macht, um dort die neusten Spiele zu zocken. Er ist gesehen worden. Von einer anderen Mutter. Sie hat’s mir prompt hektisch per WhatsApp mitgeteilt. Beweisfoto inklusive.
Ich will’s nicht wissen.
Er ist auch schon gesehen worden, wie er auf der falschen Seite des Radwegs fährt. Ohne Hände.
Ich will’s nicht wissen.

Es dauert 35 Minuten, bis mir ein Licht aufgeht an diesem Montagmorgen. Mir endlich klar wird, warum das Kind sich so gar nicht freut über zwei entfallene Schulstunden.
Natürlich haben WIR uns früher gefreut. Damals. Und besser als eine Freistunde war nur eine freie Doppelstunde, in der man heimlich vom Schulgelände verschwinden konnte, ein bisschen durch die Stadt streifen. Kaugummikugeln kaufen, in Spielzeugläden herumlungern, das Taschengeld für irgendetwas wunderbar Überflüssiges ausgeben. Hätte er auch machen können, hätte ich nichts gewusst vom Schulstundenentfall. Jetzt muss er heimkommen. Schlimmstenfalls gleich Hausaufgaben machen – der arme Kerl.
Ich hab die App gelöscht.

shy

 

24. Oktober 2016

1 Kommentar

Ich stell mir die Frage was später aus solchen overcontrolled Kindern mal werden soll.

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