Für Dich, Elias. Und für Dich, Mohamed.

Berlin_skal

Liebe S.,

kannst Du Dir vorstellen, dass Deine Kinder – oder eines – plötzlich verschwinden? Unwiderruflich weg sind? Für immer? Es gibt wohl keine Vorstellung, die schwerer fällt und die schrecklicher ist. Und eine, die man ganz automatisch vermeidet.
Wie Du weißt waren wir über Halloween in Berlin. Die Hauptstadt war wie immer wunderbar. Kinderfreundlich, lebendig, die Sonne schien, alles super. Abends liefen dann die kleinen Hexen und Dämonen durch die hell erleuchteten Straßen am Winterfeldplatz und – anders als bei uns in der Provinz – hatten dort vor allem die Restaurants und Bars vorgesorgt. Die Kinder bekamen heiße Falafel, Baklawa, Kunafa oder Halawat Dschibn – und jede Menge Aufmerksamkeit.

Plötzlich an einer Ecke kam die muntere Truppe ins Stocken. Leuchtende Kerzen waren an einer Ampel entzündet. Dazwischen Rosen und Bilder von zwei Jungen. Elias und Mohamed lächelten und schauten zwischen den Kerzen hervor. Wer ist das, wollten alle wissen. Und was ist mit ihnen passiert? Entführt? Wann? Ermordet? Wie genau. Und auch: warum? Was wollte der Entführer von den Jungen? Fragen, auf die wir spontan keine kindgerechte Antwort fanden. Für die brutale Wahrheit seien die Kinder noch zu klein, fanden wir. Ein Block weiter erneut Kerzen und Blumen und viele kleine Teddys. „Der eine schaut traurig“, findet ein Mädchen. „Ob er schon geahnt hat, was passieren würde?“

Später fragten wir Eltern uns: Wie geht man damit um, dass es viele kranke, unglückliche, mitleidlose Menschen „da draußen“ gibt? Die Kinder nie mehr aus den Augen lassen? Zu jeder Tageszeit wissen, wo sie sind? Sie elektronisch überwachen? Aber wie sollen sie dann selbständig werden. Und vor allem: wie sollen sie Vertrauen zu der Welt „da draußen“ aufbauen, wenn sie ständig Angst haben müssen? Wie können sie lernen, Gefahren richtig einzuschätzen, ohne in jedem Menschen eine Gefahr zu sehen?

Vor einigen Monaten sollte mein 10-jähriger Sohn allein mit dem Hund raus. Niemals hätte ich gedacht, dass er in unserem beschaulichen Viertel voller Kinder und Menschen die er kennt, in eine „komische“ Situation geraten könnte. Doch er kam und kam an diesem Tag nicht nach Hause zurück.
Als er endlich wieder da war, brach er sofort in Tränen aus. Er weinte und weinte. „Der Hund“, meinte er immer wieder, „der Hund“. Hektisch untersuchte ich den Hund konnte aber keine Verletzung feststellen. Endlich nach und nach konnte ich heraushören was passiert war: Er und zwei Freunde hatten sich auf einer Bank niedergelassen. Plötzlich bemerkten sie, dass der Hund weg war. Ein Mann, der in einiger Entfernung auf der Bank saß, hielt ihn fest. Und gab ihn nicht heraus. Er weigerte sich, den Hund los zu lassen – bis mein Sohn seinen Namen, seinen Nachnamen, seine Adresse, seine Telefonnummer herausgegeben hatte. Ich war wie vom Donner gerührt. Sämtliche Regeln waren hier gebrochen worden. Mir wurde ganz kalt. Einem fremden Mann Namen und Adresse gegeben. Was hätte noch passieren können! Oder übertrieb ich hier in meinem Schrecken.

„Aber er hätte mir meinen Hund nicht wiedergegeben ….“

Mir wurde zum ersten Mal bewusst, wie schutzlos man selbst noch mit 10 Jahren ist. Wie schnell die Regeln, die er seit seiner Geburt (Nicht mit Fremden sprechen! Niemals Fremden deinen Namen und deine Adresse geben! Und die wichtigste Regel: Niemals mit Fremden mitgehen!) eingetrichtert bekam, vergessen sind, wenn die Realität nun mal so ist, wie sie ist.

Aber wie weit wäre er gegangen?

„Und wenn der Mann gesagt hätte, ‚Du musst mit mir nach Hause gehen, sonst kriegst Du deinen Hund nicht zurück‘! Wärst Du mitgegangen?“

„Ja.“, sagte mein Sohn. „Das hätte ich wahrscheinlich gemacht.“
Du siehst, liebe S., es hat keinen Sinn, die Welt für unsere nach unseren Vorstellungen zu planen und sicher zu machen. Wir können nur immer weiter versuchen, unsere Kinder stark und selbstbewusst werden zu lassen.

Die Welt ist unkalkulierbar und die größten Gefahren lauern da, wo wir sie niemals vermutet hätten. Auf dem Spielplatz. Vor einem Amt. Auf einer Bank im Park.

Deine ….

4. November 2015

1 Kommentar

Stärker Beitrag der leider auch ratlos macht.

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