Das neue Biedermeier

Biedermeier

Sie heißen „hübsch und klein“, oder „Franz&Frieda“, oder „PrinzundPrinzessin.“ Sie sind lila und rosa oder lindgrün und orange. Sie sind aus Bio-Baumwolle und garantiert unter fairen Bedingungen hergestellt. Unter bestmöglichen Bedingungen, sozusagen. Auf gepflegtem Parkett und unter einer Stuckdecke. Eigentlich war Anna mal eine ausgezeichnete – für handwerkliche Arbeiten jedoch völlig unbegabte – Staatsanwältin. Bis ihr erstes Kind kam. Dann war sie erst mal mit größter Begeisterung Mutter. Heute werkelt sie, wenn die drei Kinder bei der Tagesmutter und im Waldorfkindergarten sind, am liebsten in ihrem Atelier herum. Schön hell ist es hier und schön ruhig. Anna hat sich auf die Herstellung von bunten Nistkästen für einheimische Singvögel spezialisiert. Aus garantiert unbehandelten Hölzern und handbemalt – jedes Teil ein Unikat. Annas Mann Friedrich ist immer noch Anwalt.

Seit Tochter Fee auf der Welt ist, arbeitet er rund 60 Stunden in der Woche. Ab und zu verkauft Anna einen ihrer Nistkästen über das Internetportal Dewanda. Dann schreibt sie darüber in ihrem Blog „Nistnestchen“ und andere, ebenfalls bloggende und nähende oder häkelnde Mütter kommentieren es simultan … Okay, okay, das haben wir uns ausgedacht. Anna gibt es nicht. Aber dafür viele andere Mütter, die seit ihrer Schwangerschaft die Liebe zum Nähen, Werkeln, Basteln, einfach für alles Bunte entdeckt haben – und die darüber bloggen (und die auch damit Geld verdienen?). Wir fragen uns: Ist dieses Phänomen einfach nur ein lustiges, allgemeines irgendwie gleichzeitig ausgebrochenes bundesweites Hobby? Oder der ernst zu nehmende Auftakt einer neuen UnternehmerInnenschicht? Wir haben uns in der Region umgesehen. Erste Station. Das Freitagskind in Heidelberg. DER Secondhandshop für feine Kinderkleidung in der Region. Obwohl: gestartet hat Binaca Appelt vor fünf Jahren mit einem Secondhandshop, der auch einiges Neues führte.

Heute hat sie in ihrem hellen urbanen Geschäft 90 Prozent Neues und davon vieles von regionalen Firmen (zum Beispiel von Anna und Paul, loud&proud, Tragwerk), und davon wiederum stammt ein Teil des Angebots von Müttern. Zum Beispiel von Stephanie Punzo. Eigentlich ist sie Krankenschwester auf der Kinderintensivstation und Mutter von zwei kleinen Kindern. Unter dem Label „vonlolle“ produziert die 32-Jährige seit kurzem die hübschesten Kleinigkeiten. Wickeltaschen, Kleider mit Eulenapplikationen, Röcke, Trostkissen, Beulentaschen Auadecken und wie sie alle heißen. „Eigentlich hat alles damit angefangen, dass mein Sohn Leo seine Lieblingsmütze verloren hatte und ich sie nicht nochmal kaufen konnte. Da habe ich nach 15 Jahren meine alte Nähmaschine ausgepackt und ihm eine Mütze genäht. Daraus wurden dann zwei, dann drei, dann vier und plötzlich wollten alle Freundinnen auch Mützen für ihre Kinder.“ Bianca Appelt ist begeistert: „Es sind Unikate, genauso perfekt gearbeitet wie die Massenware, dafür aber individuell und anheimelnd. Eltern suchen heute Buntes für ihre Kinder, gern ökologisch- und nachhaltig Produziertes, sie wollen aber keinen Kitsch.“

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„Eigentlich habe ich das Nähen für meine Kinder zufällig entdeckt, jetzt ist es eine regelrechte Näh- und Stoffsucht geworden, erzählt Stephanie Punzo weiter. „Unsere komplette Wohnung ist vollgestopft mit Stoffbahnen und jede freie Minute sitze ich an der Nähmaschine. Aber davon leben? Ausgeschlossen. Trotzdem lohnt es sich für mich, denn die Kinderklamotten von der Stange sind mit billigen Stoffen und unter skandalösen Bedingungen produziert. Da näh’ ich sie lieber selber mit guten Stoffen und einem guten Gewissen.“ Ähnlich argumentiert Yvonne Markus, die gerade ihr drittes Kind bekommen hat und unter dem Label „Häkelliebe“ bunt gehäkelte Mützen im Freitagskind und im Internet vertreibt. „Es gibt zurzeit einen unglaublichen Trend zum Selbermachen. In den unterschiedlichsten Bereichen. Ich habe durch das Häkeln der Mützen gemerkt, dass mein Job bei SAP eigentlich gar nicht so zu mir passt. Etwas Kreatives liegt mir viel mehr. So gesehen haben meine Kinder zwar meine Berufstätigkeit unterbrochen, haben mir auf der anderen Seite aber nicht nur einen kreativen Schubs gegeben, sondern mich auch wieder näher zu mir selbst gebracht.“ Zweite Station: Das Farbenreich. Ein Laden wie aus Berlin. Dabei mitten in Heidelberg. Hier ist alles hip und schön. Und nachhaltig. Farbenreich-Inhaberin Barbara Wolf war eigentlich mal im Gesundheitswesen. Über Umwege aber doch zielgerichtet kam sie dazu einen Laden für Accessoires zu führen. Sie versucht verstärkt kleine Firmen zu unterstützen, seit einiger Zeit nutzen immer mehr kreative Mütter das Farbenreich als Verkaufs-Plattform für ihre Geldbeutel, Turnbeutel, Mützen, Lätzchen … Zum Beispiel Katja Angerbauer mit ihrem Label „rotorangegelb.“Die junge Mutter war schon Zahntechnikerin, Kommunikationsgestalterin und bis zu ihrer Schwangerschaft Theatermalerin am Nationaltheater in Würzburg. „Nach meiner Elternzeit hätte ich dort sehr gern wieder angefangen. Leider wurde eine Teilzeitstelle vehement abgelehnt. Dann folgte sogar die Kündigung.“ Seit einigen Monaten arbeitet sie einige Stunden in einer Grundschule. „So bleibt mir genügend Zeit für meine Näharbeiten Und natürlich für Sohn Jakob, der bald drei wird.

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Obwohl die in kräftigen in orange, gelb und roten Farben gehaltenen Produkte im Farbenreich regelmäßig ausverkauft sind, macht es wirtschaftlich auch in ihrem Fall keinen Sinn. „Da müsste ich Massenware produzieren und genau das will ich nicht. Jedes Stück soll ein Unikat sein.“ Hat sie vielleicht eine Erklärung für uns, warum so viele (Neu-)Mütter ihre kreative Ader entdecken? „Das liegt am Nestbautrieb“, überlegt Katja Angerbauer und daran, „dass viele Mütter die Einzigartigkeit ihres Kindes mit einzigartigen Dingen unterstreichen wollen.“ Und unser Fazit? Verschwenden die Näh-, Deko- und Häkel-Mamas wertvolle Arbeitskraft? Steuern sie direkt ohne Umwege auf die Altersarmut zu, raus aus dem Job – nie wieder rein? Oder ist diese Entwicklung Ausdruck einer neuen Leichtigkeit, ein zurück-zusich- selbst-Finden? Denn, dass es aber auch anders geht, beweist DeWanda-Gründerin Claudia Helming. 2006 startete sie die Internet- Plattform für Kreatives und Selbstgemachtes, heute leitet Claudia Helming als Geschäftsführerin von DaWanda ein Unternehmen mit rund 150 Mitarbeitern aus 15 Ländern. Mit Sitzen in Berlin, Paris, Warschau, Madrid, Amsterdam und Mailand.

Also doch nicht nur Zeitvertreib? Fest steht, es ist ein Phänomen des Heute. Vielleicht gestalten wir das Leben und den Alltag unserer Kinder so bunt und liebevoll und voller individueller Details, wie wir uns Kindheit im Idealfall vorstellen? Oder genauer: wie wir sie selbst gern gehabt hätten? Nämlich bunt und individuell und voll witziger Details. Oder sind wir so bemüht, unsere Kinder zu Individualisten zu erziehen, dass nichts von der Stange mehr gut genug für sie ist? So bleibt nur ein Satz zum Schluss und der muss leider sein: Vielen Dank liebe Ehemänner, dass ihr Anwälte und Angestellte oder Autoverkäufer seid und es auch bleibt, und es uns erlaubt über euch zu bloggen und ansonsten zu nähen, zu häkeln, das Nest zu gestalten. Denn jetzt mal Klartext: ohne euch im Hintergrund wäre das nicht nur ein nettes, sondern ein unbezahlbares Hobby. bw // Fotos: sho

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2. August 2014
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