Die verlorene Wette oder: mei sister is tu jears old!

BlogHeftneuHeidelbergKierkegaard und die Konstruktion des Ästhetischen … oder wie war das noch mal?

Liebe S. ,

ab und zu sagt mein Sohn zu mir: „Ich kriege noch 10 Euro von Dir!“ Oder: „ Mama weißt Du noch, die verlorene Wette!  Du schuldest mir noch 10 Euro!“
„Du schuldest MIR zehn Euro!“, antworte ich dann reflexhaft, aber nicht mehr mit dem fröhlichen Jubel  früherer Zeiten in der Stimme, eher abwesend resigniert, er muss endlich verstehen, dass dieses Thema für mich vorbei ist! Ich habe mich nämlich blöderweise auf diese Wette eingelassen, weil ich mir GANZ SICHER WAR, dass in dem Englischheft aus der letzten Klasse KEIN EINZIGES WORT weder in Englisch, noch in einer anderen Sprache stand.

Meiner Erinnerung nach hatte ich dort nur mehr oder weniger gelungene Bilder gesehen, gemalt mit Wachsmalblöcken und entsprechend ungelenk. Ich habe diesen Umstand sogar per Mail an seine Englischlehrerin weitergegeben, die Anfang des neuen Schuljahres nicht müde wurde, penetrant nach diesem Heft zu fragen und auf Herausgabe zu drängen.

Das ging aber nicht. Ich hatte das Heft weggeräumt, musst Du wissen. Und zwar auf den Speicher.

Auf unserem  – nicht beleuchteten, lebensgefährlich steil zu erreichenden – Speicher befinden sich folgende Dinge: viele Kartons mit Büchern. Noch mehr Kartons mit Büchern (früher hatte ich mal ein eigenes Zimmer!). Desweiteren befinden sich auf dem Speicher Teile des Hochbetts meines Sohnes (falls wir es verkaufen wollen und die Käufer sämtliche Anbauten erwerben wollen. Natürlich ohne jede Anleitung und Vorstellung wie das Bett aussehen könnte, aber egal).

Dann bergeweise Kinderklamotten, die niemand auf dem letzten Flohmarkt (wie viele Jahre ist der jetzt eigentlich her?) kaufen wollte.

Und natürlich die jahreszeitlich abgestimmten Dekokisten (Ostern, Geburtstage, Weihnachten). Die sind ganz hinten, deshalb macht es mehr Sinn jedes Jahr neuen Dekokrempel zu kaufen. Was ich auch tue. Obwohl ich mir jedes Jahr aufs Neue vornehme, jetzt endlich, endlich eine Tradition zu gründen, an die sich die Kinder später gern erinnern werden. Zum Beispiel immer einen bestimmten Kerzenhalter auf den Tisch zu stellen („Weißt Du noch, den Kerzenhalter, den Mama immer auf den Tisch gestellt hat. Das war soooo schön.“) Oder eine bestimmte Girlande über den Geburtstagstisch zu dekorieren. Bisher war kein Kerzenhalter tiefgründig genug und die Girlanden gehen immer sofort kaputt. Also kaufe ich jedes Jahr (Ostern, Geburtstage, Herbstallerlei, Weihnachten) neuen Krempel. Der wandert dann auch hoch auf den Speicher.
Aber zurück zu meiner Wette. Immer am Ende eines Schuljahres bekommt mein Sohn die ganzen Hefte des Jahres mit nach Hause, jede Menge selbst Gebasteltes, Gestricktes, (ich habe eine schöne Mütze vom letzten Jahr, die mir nur ein winziges bisschen zu klein ist), Geschmiedetes. Gemaltes. Dazu jeweils ein Zeugnis, zum Glück ohne Noten, sondern nur mit vielen netten Aussagen über meinen Sohn.
Ich habe Jahre gebraucht, um zu kapieren, dass die Lehrerin bestimmte Dinge zurück will. Ich bin mir aber ganz sicher, dass mein Sohn mir im letzten Sommer den kompletten Stapel in die Hand gab, mit den hoheitsvollen Worten: „All das schenke ich dir!“

Wie konnte ich wissen, dass er eine neue überaus strenge und sture  Englischlehrerin bekommt, die darauf drängt, die Geschenkübergabe rückgängig zu machen und einfach nicht glauben wollte, dass nur Gemaltes in dem Heft war und das Heft definitiv auch unauffindbar ist?
Ich hatte es nämlich wie gesagt auf den Speicher geräumt.

Erst, als ich einsehen musste, dass meine Mails voller Beteuerungen nichts halfen, und auch kein neues Heft gekauft werden durfte, stieg ich murrend auf den staubigen, komplett dunklen Speicher hoch und blickte mich suchend um.

Zuerst stieß ich mir (wie jedes Mal) den Kopf schmerzhaft an einem verrosteten Eisenhaken direkt neben der Treppe, dann fand ich die Kiste mit der Weihnachtsdeko (Hurra!) und dann  – wie übrigens alle fünf Jahre –  fiel mir meine Seminararbeit der Vergleichenden Literaturwissenschaft über „Die  Ideen und Gedanken von Friedrich Nietzsche und Immanuel Kant in Heinrichs Mann ‚Die Jugend des Königs Henri Quatre‘“ in die Hände. Ich war ganz gerührt. Ich weiß genau, warum ich sie aufgehoben habe. Diese Arbeit hatte als einige die volle Punktzahl erreich. Summa, summa cum laude sozusagen. Ich wollte, dass die Kinder, wenn sie mal später in meinen Sachen kramen, diese Arbeit finden und sich schämen, bzw. voller Bewunderung sind. „Die anderen Arbeiten finde ich gerade nicht“, würde ich dann sagen. „Aber besonders spannend war unter anderem mein kleiner Beitrag über Kierkegaard und die Konstruktion des Ästhetischen“ … ect). Ich überlegte kurz, die Arbeit mit runter zu nehmen und sie irgendwo im Wohnzimmer zu verstecken, denn hier auf den Speicher würden die Kinder kaum freiwillig  zum Rumkramen kommen …

Nur das Heft blieb verschwunden.

Ich habe es dann Monate später durch puren Zufall in einer mit „Schulsachen“ ordentlich beschrifteten Kiste direkt neben der Treppe entdeckt. Aber da war bereits ein neues Heft da und wurde mit mehr oder weniger gelungenen Malarbeiten gefüllt.

Ich blätterte das Heft  natürlich sofort eilig durch und zu meiner großen Verwunderung standen da tatsächlich einige „englische“ Sätze.Zum Beispiel: Play you football od handball? Oder:  Mei sister is tu jears old.

Das Heft bleibt oben! Beschloss ich und die zehn Euro behalte ich auch. Ich habe auch kein schlechtes Gewissen.  Nur als eine Sammelmail von der Lehrerin kam, mit den Hinweis, die Kinder würden jetzt alle neue Hefte bekommen, und aus Kostengründen die mit dem billigen Papier,  fühlte ich mich kurz schlecht. Vielleicht spende ich die Zehn Euro der Klassenkasse

Bis bald,
Deine … 

28. November 2014