Matschhosendramen oder die Vorteile eines ausgeprägten Verdrängungsmechanismus

Babyborn

Vergiss das Prinzessinnenkleid, es ist Winter!

Liebe B.,

ich bin ein Meister der Verdrängung unangenehmer Ereignisse. Da, wo Du Deine Weihnachtsdekoration zumindest ansatzweise vermutest, da habe ich Weihnachten schon in Gänze vergessen. Als Mutter ist diese Eigenschaft hilfreich. Wenn meine Tochter morgens BLÖDEMAMA-türenschlagend und mit der massiven Drohung NIE WIEDER ZU KOMMEN das Haus verlässt, dann ist das nicht schön.

Es kostet mich Kraft. Unverschämt viel Kraft, ihr nach diesem divenhaften Abgang NICHT die vergessene Brotdose hinterherzutragen.  Mit Bauchschmerzen schleppe ich mich in die Redaktion. Stelle mir vor, wie mein Kind hungrig in der Klasse sitzt, mit großen Augen all die Leckereien betrachtet, die andere Kinder bei sich haben. Ohne Nahrung wird sie sich unmöglich auf den Mathetest konzentrieren können. Sie wird ihn verhauen, daraus eine massive Versagensangst im Fach Mathematik entwickeln und spätestens wenn sie 15 ist, werde ich ihr nach Syrien folgen müssen und RTL2 wird über uns berichten.

Nachdem ich all diese unabwendbaren und logischen Verkettungen der Zukunft meiner Tochter einmal komplett durchdacht habe und der Kaffee am Redaktionsautomaten durchgelaufen ist, vergesse ich den Vorfall. Vollständig.

Später kommt die Tochter freudestrahlend aus der Schule, ihr Ärger (worüber eigentlich?)  ist verraucht. Stattdessen wird mir glücklich berichtet, wie viele leckere Dinge, ihr ihre liiiiiieben Klassenkameraden vom jeweiligen Frühstück abgegeben haben. Sämtliche Frühstücke wären übrigens viiiiiiel leckerer, alle anderen sind Mütter viiiiiiel lieber und viiiiiiel großzügiger in Sachen Süßkram in der Brotbox und im Übrigen sei sie jetzt satt und wolle kein Mittagessen.

Gut, dass auch ich den Morgen verdrängt habe. Sonst wäre spätestens jetzt der nächste Krach angezeigt.

Nun wirst Du möglicherweise abwinken. All das als normal bezeichnen. Aber, liebe B., gestern ist mir klar geworden, wie weit es mit meinem Verdrängungsmechanismus wirklich ist.  In dem Moment nämlich, als unsere liebe Kollegin V. sich angstvoll bei ihrem Nachbarn erkundigte, ob er „das Geschrei“ gestern gehört habe. Und dann ihre Erleichterung, als der Nachbar verneinte. Leise gestand sie mir, dass ihre Tochter (3) so unglaublich gebrüllt hätte, dass sie Sorge hatte, jemand würde die Polizei rufen.  Der Grund für dieses Gebrüll? Eine Hose. Genauer gesagt eine Strumpfhose. Jene Strumpfhose war das willensstarkte Kind wohl nicht bereit, gegen eine Schlafanzughose zu tauschen. Und in diesem Moment brachen sie über mich herein, die Erinnerungen an Dramen, die sich im Kreise meiner Familie abgespielt haben:

Hysterische Schreiorgien meiner Tochter, weil sie nicht akzeptieren konnte, dass man bei drei Grad Außentemperatur keine FlipFlops im Wald tragen kann.
Lautstarke Tragödien um die zu-feste oder zu-lose Schnürung von Schuhen. Inklusive strampeln, treten, auf den Boden werfen, blau anlaufen. Treppenhaus zusammenschreien.
Als Gipfel aller Katastrophen einen handfesten Familienstreit, weil meine eigentlich putzige  und damals vierjährige Tochter meinte, sie müsse auf einem norwegischen Hochplateau, nicht nur uns sondern auch sämtliche Elche zusammenbrüllen, weil wir nicht dulden wollten, dass sie mit nackigen Beinchen und nur im  Faltenröckchen durch Schneefelder wandert.  Über diesen erzieherischen Punkt gab es dann derartige Zerwürfnisse innerhalb der Reisegruppe, dass Teile davon immernoch nicht miteinander reden. Nein, ich übertreibe nicht.

Und ich hatte das verdrängt.

Alles. Auch die furchtbaren Szenen, die sich jahrelang am Morgen abgespielt haben, weil die Matschhose meiner Tochter „irgendwie falsch saß“. Die Verzweiflung meinerseits, die marternde Frage, was ich wohl falsch gemacht habe, die Streitgkeiten mit dem Ehegatten über die richtige Reaktion auf die Hysterie. Das war alles weg. Gelöscht aus meinem Hirn.

Wie konnte ich das nur vergesssen?

Aber vielleicht habe ich es doch nicht ganz vergessen. Vielleicht hat mein Unterbewusstsein da doch noch seine Finger im Spiel gehabt. Unsere BabyBorn hat nämlich jetzt eine Matschhose. Die habe ich meiner süßen Tochter zum Geburtstag geschenkt.
Und diese Hose ist der Puppe verdammt schwer anzuziehen. Und gestern Nachmittag da habe ich sie gehört, meine Tochter, wie sie  geflucht hat, weil sie die Hose nicht über den Puppenhintern bekommen hat.
„Das zieh ihr doch was anderes an, zum Beispiel das hübsche Prinzessinenkleid“, habe ich zuckersüß geraten.
„Auf keinen Fall!“ hat meine Tochter gebrüllt.

Dafür sei es viel zu kalt! Und dann hat sie weiter gekämpft. Mit der Puppe und der Hose und mich hat sie dabei bestimmt auch noch wüst beschimpft, weil ich ihr diese blöde Hose für die noch viel saublödere Puppe zum Geburtstag geschenkt habe.
Aber das habe ich schon wieder vergessen.

4. Dezember 2014

2 Kommentare

So ei realistischer ehrlicher und toller Artikel.
Mitten aus dem Mamaalltag

Oder Papaalltag. Gibt auch Väter die ihre Kinder mit allem drum und dran grossziehen. Hab solches auch mit meinem Kind erlebt, ganz ohne dessen Mama, und hab’s auch überstanden und mir Sorgen gemacht etc.

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