Ein Bruder, ein Sohn, ein Flüchtling

Eine Familie nimmt einen minderjährigen Flüchtling aus Afghanistan bei sich auf. Heute ist Mostafa wie ein Sohn, wie ein Bruder. Wir haben die Familie zu Hause in Hemsbach besucht.

Bruder

2016 wurden in Deutschland 84 000 geflüchtete Kinder und Jugendliche von Jugendämtern in Obhut genommen. Über die Hälfte von ihnen war damals unter 18 Jahre alt. Mostafa kam 2015 in Deutschland an, er ist heute 19 Jahre alt. Vielleicht ist es die Zahnspange, die ihn jünger aussehen lässt, vielleicht sind es auch die feinen Gesichtszüge, die leise, zurückhaltende Art und Weise, wie er spricht. Er weiß nicht genau, wann er Geburtstag hat, irgendwann im Frühling. Mostafa lebt seit zwei Jahren bei Familie Heyden in Hemsbach. Die Heydens haben ihn aufgenommen wie einen Sohn. Für ihre beiden leiblichen Söhne, Tom und Luca, ist Mostafa ein Bruder. Sie leben zusammen, sie verbringen Freizeit miteinander. „Das ist Integration. Nur so funktioniert das“, sagt der 17-jährige Luca im Gespräch mit der Redaktion. „Das ist doch auch ganz normal. Wenn wir zum Beispiel zu einem Schüleraustausch in ein anderes Land gehen, dann sind wir doch auch nicht unter uns, sondern gehen in Familien. Nur so kann man doch die Sprache lernen, und verstehen, wie es in dem Land ist.“ Luca ist der Überzeugung: „Alle profitieren davon – die Flüchtlinge und die Familien auch.“ Wenn man Luca zuhört, dann klingt das alles wie ein Kinderspiel. Man spürt die Zuneigung, mit der er Mostafa begegnet. Dass es nicht immer ein Kinderspiel ist, ein drittes Kind in der Familie aufzunehmen, das kann Lucas Mutter Sabine freilich ein bisschen besser einschätzen. Und sie macht auch keinen Hehl daraus. Trotzdem hat sie die Entscheidung keine Sekunde bereut. „Stellen Sie sich vor, da ziehen 20 unbegleitete Flüchtlinge vor ihrer Haustür ein, die monatelang nur gelaufen sind. Da ist man doch Mama. Da muss man doch helfen.“ Darüber hinaus ist sich Sabine Heyden sicher: „Die Menschen, denen wir jetzt Liebe geben, die machen die Welt ein bisschen besser.“

Die Heydens sind warmherzige, zupackende Menschen, die aber auch kein Blatt vor den Mund nehmen. Als die ersten minderjährigen Geflüchteten auf den Schafhof in Hemsbach in das betreute Wohnen vom Pilgerhaus kamen, richtete Rüdiger Heyden, Lucas Vater dort oben ehrenamtlich eine Fahrradwerkstatt ein. Das mit der Fahrradwerkstatt hat Heyden später wieder gelassen. „Die werden ja heute mit dem Bus gefahren“, sagt er dann. Man sieht ihm an, dass ihm das nicht passt. Er es lieber sähe, wenn die Jugendlichen radeln würden. Auch wenn der Weg steil ist. Gleichwohl, der Kontakt zu den Jugendlichen im Schafhof war geknüpft. Die Freundschaft zu Mostafa wurde schnell eng. Acht Monate später beschließt die Familie gemeinsam, den Jungen bei sich aufzunehmen. So unkompliziert das heute wirkt, wenn man die Jungs gemeinsam sieht, einfach ist das nicht immer. Auch für Mostafa war es am Anfang schwierig. „Ich habe mich immer für alles bedankt, versucht, alles richtig zu machen,“ sagt er und lächelt. Das ist nun zwei Jahre her. Inzwischen ist viel passiert. Mostafa hat seinen Hauptschulabschluss in Weinheim gemacht und eine Lehre als Zahntechniker angefangen. „Ein Kindheitstraum“, sagt er und seine Augen strahlen. Das ist eins der wenigen Dinge, die Mostafa von sich aus der Zeit erzählt, bevor er in Hemsbach angekommen ist. An der sprachlichen Barriere liegt das nicht. Mostafa spricht hervorragend Deutsch. Man spürt, dass er nicht darüber sprechen möchte. Er erzählt nur so viel: Dass er in Afghanistan nie eine richtige Schule besucht hat. Dass seine Familie verfolgt wurde. Dass sie in den Iran geflohen seien. Zwei Jahre dort gelebt hätte. Eine schreckliche Zeit, eine hoffnungslose Zeit. Afghanen gelten im Iran als Menschen zweiter Klasse. Nach zwei Jahren beschließt die Familie, dass Mostafa versuchen soll, nach Deutschland zu kommen. Ein paar Monate später ist er hier. Über die Flucht erzählt er uns nichts. Auch Luca weiß darüber wenig. Dabei hat sich der 17-Jährige mit dem Thema Flucht und Integration intensiv beschäftigt. Er besucht das Wirtschaftsgymnasium in Weinheim, für die Schule hat Luca 2018 eine „GFS“* über das Thema geschrieben und dafür einen Preis gewonnen. „Wie verändert Integration unser Land?“ lautete der Titel. Unter 3200 eingereichten  Arbeiten wurde Lucas GFS vom baden-württembergischen Landtag mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Was die Jury überzeugte war die persönliche Geschichte von Mostafa, die die Basis der Arbeit bildete. Übrigens, auch wenn Lucas GFS den Landtag überzeugt hat, sein Lehrer war nicht so recht begeistert. Er gab Luca lediglich eine vier plus.

Die Geschichte von Mostafa könnte ein Paradebeispiel sein für gelungene Integration. Aber sie ist nicht zu Ende. Mostafas Asylantrag ist abgelehnt worden. Vorerst ist Mostafa hier dennoch sicher, da er eine Ausbildung macht, kann er auf jeden Fall fünf Jahre in Deutschland bleiben. Trotzdem hängt die Ablehnung wie ein Damoklesschwert über den Heydens. Sabine Heyden hat dafür wenig Verständnis, aus zweierlei Gründen. „Ich würde von einer Regierung erwarten, dass sie Familien, die ein Kind aufnehmen, besser unterstützt. Man verkauft doch auch ein Stück seiner Seele, wenn man ein Kind aufnimmt.“ Sie findet auch, dass alle Flüchtlinge, die sich in Deutschland integrieren, eine Ausbildung haben, einen Beruf erlernen, hier auch bleiben dürfen sollten. „Deutschland braucht Zuwanderung. Aber die Bevölkerung will das nicht“, sagt sie nüchtern. „Die Leute haben Angst, dass man ihnen etwas wegnimmt.“

„Als letzter Ausweg bleibt die Adoption“, sagt Rüdiger Heyden. Mostafa selbst will das im Moment aber nicht. „Ich habe ja auch richtige Eltern“, sagt der Junge leise. Seit drei Jahren hat er sie nicht gesehen, lediglich per WhatsApp oder Skype hat er alle paar Wochen Kontakt zu ihnen. „Sie sagen immer, dass es ihnen gut geht, ich hoffe das stimmt. Vielleicht sagen sie es aber auch nur, damit ich mir keine Sorgen mache“, sagt Mostafa. Seine gesamte Körpersprache zeigt, dass er sich doch Sorgen macht. Wenn Mostafa in die Zukunft blickt, dann hat er Träume: „Ich würde gern meine Ausbildung fertig machen, weiter zur Schule gehen und Zahntechnik studieren. Ich möchte, dass meine Eltern stolz auf mich sind“, sagt er. Damit meint er natürlich vor allem seine leiblichen Eltern. Aber er meint auch die Heydens.

shy // Foto: sl

* Bedeutet: „Gleichwertige Feststellung von Schülerleistungen“

28. November 2018