„Erst einmal ist es wie Liebeskummer“

LiebeskummerWenn man das Verhältnis von Brüdern und Schwestern in Relation zu anderen Beziehungen in unserem Leben stellt, dann ist die Geschwisterbeziehung die wohl am längsten andauernde, die wir haben. Die Emotionsreichweite bei Geschwisterkindern reicht von Liebe bis zu Hass. Mal ist das eine stärker ausgeprägt, mal das andere intensiver. Je nach Alter beziehungsweise Lebenssituation ändern sich die Abstufungen.

Mit Schwester oder Bruder bildet man eine Schicksalsgemeinschaft, in die man hineingeboren wird. Dass Geschwister Rivalen sind, liegt in der Natur der Sache. Noch während das Baby im Bauch der Mutter wächst, beginnt ein Wettstreit um die Aufmerksamkeit der Eltern. Somit wird das neue Geschwisterchen direkt als Eindringling eingestuft. Das ältere Kind wird „entthront“, es muss die Aufmerksamkeit und Zeit der Eltern teilen und möchte das aber nicht. Verständlicherweise. Und hier kommt es nun auf uns Eltern an. Je besser es uns gelingt, dem großen Kind zu zeigen, dass es jetzt nicht zu Nummer zwei oder drei abgerutscht ist, sondern es in die Versorgung und Betreuung des neuen Familienmitgliedes miteinbeziehen, umso reibungsloser verläuft es. Mütter und Väter möchten jedem Kind gerecht werden, kein Kind bevorzugen und fair sein – bindungsorientierte Erziehung, wie man es neudeutsch auch nennt. Kein Kind darf zu kurz kommen. Ist das aber wirklich machbar? Und zwar immer?

Egal in welcher „Erziehungssackgasse“ man sich befindet – die Elternratgeber und Bestseller von den Autorinnen Danielle Graf und Katja Seide liefern Unterstützung. 2020 ist ihr dritter Ratgeber erschienen: „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten – das Geschwisterbuch“. Er richtet sich an Eltern mit mehr als einem Kind. Ob ein weiteres Kind gerade auf dem Weg ist oder bereits in der Familie seinen Platz eingenommen hat, – spielt dabei keine Rolle.

Liebe Frau Seide, liebe Frau Graf,  Sie beginnen Ihr Buch mit dem Thema Liebeskummer. Den verbindet man in der Regel mit pubertierenden Teenagern. In Ihrem Buch sprechen Sie vom ersten Liebeskummer, der schon viel früher stattfindet. Und zwar meist dann, wenn der Zuwachs da ist. Was hat es damit auf sich?

Wir Eltern sind die erste große Liebe unserer Kinder – das hat die Natur so eingerichtet. Wenn wir nun ein neues Baby bekommen,  dann kann sich das für unsere Erstgeborenen so anfühlen, als müssten sie die elterliche Liebe nun mit jemandes zunächst gänzlich Unbekanntem teilen. Das ältere Geschwisterchen verliert einen großen Anteil der elterlichen Aufmerksamkeit, und das schmerzt natürlich sehr. Plötzlich dreht sich die Welt hauptsächlich um das Baby, alle Bekannten und Verwandten sind verzückt, das komplette Leben ändert sich. Dieses Gefühlschaos ähnelt der verzweifelten Hilflosigkeit von Liebeskummer, daher ist es wichtig, unser großes Kind durch diesen Schmerz zu begleiten.

Wann schreitet man als Eltern bei einem Geschwisterstreit ein, wann sollte man den Streit laufen lassen?

So anstrengend Streit ist, er hat ja auch eine wichtige Funktion. Geschwister lernen in einem geschützten Umfeld soziale Konflikte  auszutragen. Diese Fähigkeit können sie nicht ausreichend entwickeln, wenn wir Streit grundsätzlich unterbinden wollen. Um Streit pädagogisch wertvoll begleiten zu können, sollte man im Moment des Konflikts genug Kraft haben. Ist man genervt, in Eile oder selbst ärgerlich, sollte man überlegen, ob man es aushält, den Streit unbegleitet laufen zu lassen. Ist das eigene Stresslevel zu  hoch, ist es eher sinnvoll, einzugreifen, die Kinder zu trennen und den Streit ggf. später ausfechten zu lassen. Immer eingreifen sollte man auch, wenn eine essentiell wichtige Familienleitlinie übertreten wurde, ein Kind wehrlos oder verletzlich ist, sehr viel Energie aufwenden muss, um sich zu schützen, oder natürlich in Gefahr ist.

Gibt es tatsächlich Geschwister, die sich wirklich nicht ausstehen können und gar als Feinde durchgehen könnten?

Es gibt Geschwister, deren natürliche Kompatibilität nicht gut passt, aber das bedeutet nicht, dass sie sich zwangsläufig nicht ausstehen können oder sich hassen. Es bedeutet nur, dass sie aufgrund ihres Charakters wenige Berührungspunkte haben und als Erwachsene vermutlich wenig Kontakt haben werden. Um genau zu sein, ist die fehlende Kompatibilität tatsächlich eher selten. Viel häufiger werden Geschwister zu Feinden, weil sie in der nachgeburtlichen Geschwisterkrise von den Eltern nicht gut genug aufgefangen und begleitet wurden oder weil der Erziehungsstil der Eltern ganz allgemein eine starke Konkurrenz und Eifersucht unter den Geschwistern fördert. Wenn beispielsweise die Liebe der Eltern von guten Leistungen abhängig ist.

Auch bei großem Altersunterschied der Kinder kann es zu einem Konkurrenzkampf kommen … ist das dann noch eine „Geschwisterkrise“?

Die Geschwisterkrise bezieht sich direkt auf die Zeit nach der Geburt – zu diesem Zeitpunkt müssen die Gefühle des/der Erstgeborenen aufgefangen werden. Kinder zeigen häufig durch unangenehmes Verhalten, dass es ihnen nicht gut geht. Sie provozieren, sie machen Dinge kaputt, sie „hören“ nicht auf ihre Eltern. Manche werden selbst wieder zum Baby und wieder andere werden still und ziehen sich zurück. Diese Verhaltensweisen sollten als Symptom erkannt werden. Nicht das Verhalten muss also bekämpft werden, sondern die unbefriedigten Bedürfnisse des Kindes, die dahinterstehen. Ein Kind, das die Wände bemalt, während die Mutter das Baby stillt, sollte also nicht hinterher ausgeschimpft werden und man braucht ihm auch nicht die Stifte wegnehmen. Stattdessen sollte man sich diesem Kind öfter im Laufe des Tages zuwenden, mit ihm spielen, ihm etwas vorlesen usw., damit seine Eifersucht verschwindet. Wenn man es stattdessen straft, verstärkt man sein Gefühl, nicht zu genügen und nicht so stark wie das neue Baby geliebt zu werden – damit forciert man Eifersucht und Konkurrenz zwischen den Geschwistern und die eigentlich temporäre Krise kann chronisch werden. Dann gibt es auch Jahre später permanent Zoff und man hat als Eltern das Gefühl, die Kinder könnten sich einfach nicht leiden.

Den Streit unter Geschwistern fair zu begleiten ist ein großes Thema in Ihrem Buch. Ist das aber tatsächlich überhaupt möglich?

Eltern fällt es manchmal sehr schwer, Streits neutral zu begleiten. Sie haben bereits in der eigenen Kindheit Erfahrungen mit Streits gemacht und können sich als große Schwester womöglich viel besser in die Rolle ihrer eigenen Tochter als in die des kleinen Bruders einfühlen. Mancher Streit wird auch von elterlichen Ängsten begleitet oder man irrt sich über die Gründe des Verhaltens der Kinder. Außerdem können wir dazu neigen, das kleinere Kind zu beschützen oder bevorzugen vielleicht unterbewusst ein bestimmtes Kind. Deswegen war uns wichtig, in unserem Buch zu zeigen, welche Umstände Einfluss auf unsere Neutralität haben. Sind wir uns bestimmter Dinge erst einmal bewusst, gelingt es uns viel besser, neutraler zu bleiben.

Dem Band zwischen Geschwistern widmet sich ein großer Teil des Buches. Wie beeinflussbar ist dieses Band durch Eltern?

Eltern können die Bindung zwischen Geschwistern sehr stark beeinflussen. Wenn sie wissen, wie Bindung „funktioniert“, können sie von Anfang an das große Kind intensiv einbeziehen und ihm erklären, wie es feinfühlig auf die Bindungssignale reagiert. Auch das Entschlüsseln von Signalen oder das Initiieren eines gemeinsamen Spiels wirkt sich positiv auf das Band aus. Später ist es wichtig, geschwisterlichen Streit zu begleiten und ein Familienklima zu bieten, in dem Freiräume geschaffen werden, sich keiner benachteiligt  oder bevorzugt fühlt und viel
gemeinsam gespielt wird.

Sowohl Bonus-Familien als auch Patchwork-Familien haben es oftmals schwerer, dieses Band aufzubauen oder gar zu festigen. So denkt man es zumindest – in Ihrem Buch belegen Sie Gegenteiliges. Was gilt es bei dieser besonderen Art des Beziehungsaufbaus zu bedenken?


Ich würde nicht unbedingt sagen, dass es für die Geschwister in diesen Familien schwerer ist, eine Bindung untereinander aufzubauen – es gibt nur andere Voraussetzungen, die es eben zu beachten gilt. Während leibliche Geschwister in der Regel innerhalb des ersten Jahres eine Bindung zueinander aufbauen, kann das bei Bonus-Familien länger dauern, vor allem, wenn die Kinder schon älter sind. Bonus- oder Patchwork-Familien können es auch mit sich bringen, dass die Geschwisterpositionen durcheinandergeraten. Möglicherweise bekommt das Kind, was immer die große Schwester war, nun plötzlich einen älteren Bruder. Das kann zu einigen Rivalitätskämpfen führen. Diese brauchen Zeit, aber wenn man sie ohne Druck begleitet, entwickeln sich in der Regel freundschaftliche Gefühle.

Jlu // Fotos: AdobeStock, BELTZ Weinheim

Mehr zu und von den Autorinnen unter: gewuenschtestes-wunschkind.de

1. Dezember 2020