„Gefühlsstärke ist auch eine Stärke“

So viel Freude so viel Wut von Nora Imlau

Nora Imlau hat mit ihrem neuen Buch „So viel Freude, so viel Wut“ einen Begriff geprägt. Den der „gefühlsstarken“ Kinder. Diese Kinder können nicht still sitzen, sie „rasten“ ständig scheinbar grundlos aus, sie weinen bei jeder Gelegenheit und sind durch nichts zu beruhigen. In der Schule fallen sie vor allem durch Unangepasstheit, durch Störungen oder durch Aggression auf. Nora Imlau zeigt auf, dass diese Kinder trotzdem ganz normal sind. Dass sie nicht einfach schlecht erzogen, oder vielleicht sogar krank sind. Sie sind einfach nur gefühlsstark. Einen Nerv trifft der Begriff auch deshalb, weil es scheinbar immer mehr gefühlsstarke Kinder gibt. Natürlich werden es nicht wirklich mehr, aber sie werden mehr gesehen und ihre Art und Weise zu sein, wird nicht einfach unterdrückt oder bestraft. Die erste Auflage von „So viel Freude, so viel Wut“ war innerhalb kurzer Zeit ausverkauft und der von ihr geschaffene Begriff der gefühlsstarken Kinder etablierte sich in Windeseile in Elternkreisen.

(Wir erreichen Nora Imlau am Handy. Sie ist mit zwei ihrer drei Kinder auf dem Weg zum Spielplatz und freut sich sichtlich über unseren Anruf …)

Sehr geehrte Frau Imlau, gerade erst haben wir uns an die „autonomen“, dann an die „hochsensiblen“ und an die „High-Need-Kinder“ gewöhnt. Mit ihrem neuen Buch ist ein neuer Begriff hinzugekommen. Ist „gefühlsstark“ Ihre „Erfindung“?

Die Begriffe, die es schon gab, haben alle ihre Berechtigung. Aber sie beschreiben nur einen Teilaspekt von dem, was Eltern erleben. Es gibt Kinder, die sind „nur“ sehr sensibel oder „nur“ bedürftig. Mit gefühlsstark bezeichne ich Kinder, die all das sind und alles gleichzeitig. Seit dem Erscheinen von „So viel Freude, so viel Wut“ bekomme ich unglaublich viele Briefe und Mails von Eltern die schreiben: „Endlich gibt es einen Begriff, der passt.“

(„Einen Moment bitte“, sagt sie plötzlich und dann zu ihrer Tochter: „Könntest du die Ampel drücken?“)

Als ich mit der Recherche für mein Buch begann, konnte ich im deutschsprachigen Raum nichts dazu finden. Nur den Verweis auf Störungen und Schwächen. Als ich dann im englischsprachigen Raum geforscht habe, bin ich sehr schnell auf den Begriff „spirited children“ der Autorin Mary Sheedy Kurcinka gestoßen. „Gefühlsstarke Kinder“ ist also tatsächlich meine Erfindung, aber angelehnt an „spirited children.“

Der Begriff hat sich sehr schnell etabliert …

Er hat sich tatsächlich wie ein Lauffeuer  verbreitet. Noch bevor das Buch im Handel war, habe ich Eltern auf dem Spielplatz darüber sprechen hören. Oft in einem sehr erleichterten Ton. Endlich können diese Eltern auch positiv über ihr Kind sprechen, nicht nur in abwertenden, negativen Vokabeln und Sätzen, wie „Ist dein Kind auch so schwierig?“ Ich wollte vermitteln: Gefühlsstärke ist auch eine Stärke. Diese Kinder sind nicht nur eine Belastungsprobe, sondern auch eine Bereicherung. Der Begriff gefühlsstark fügt sich zudem gut in die Alltagssprache der Familien ein. Das konnte ich so natürlich nicht planen. Beim Schreiben kann man als Autorin nur auf diese Wirkung hoffen.

(Warten Sie bitte kurz, ich gebe meiner Tochter Geld für eine Brezel. „Bring deinem Bruder bitte auch eine mit …“)

Wie kamen Sie auf die Idee, ein Buch über gefühlsstarke Kinder zu schreiben?

Ich habe drei Kinder und alle haben natürlich ganz eigene Eigenschaften, darauf war ich auch eingestellt. Aber eines ist… „viel krasser drauf“ als die anderen. In meiner Vorstellung musste das doch alles funktionieren.  Dem Kind viel Nähe geben, seine Wünsche und Persönlichkeit respektieren, wenn es mal einen Wutanfall hat, dann würde der auch wieder vorbeigehen … nichts davon hat sich als wahr erwiesen. Dieses eine Kind hat viel mehr und länger geschrien, als alle anderen Kinder, es war unglaublich wissbegierig und motorisch fit, konnte und wollte alles ganz schnell. Und es fühlt alles ganz schnell und überwältigend. Jedes kleine Drama war ein großes Drama. Von jedem Gefühl gab es nur die ganz starke Variante. Riesengroße Ängste, Freude, Wut, alles unglaublich intensiv.

Das klingt anstrengend …

Das ist es auch. Aber für uns Eltern ist es bei weitem nicht so  anstrengend wie für das Kind. Inzwischen formuliert mein Kind das sogar: „Mama wieso kann ich nicht so sein wie andere?“, „Warum bin ich so anstrengend?“ Das hat uns alle sehr herausgefordert. Wir haben uns viele Gedanken gemacht … stimmt da etwas nicht mit diesem Kind? Hat es vielleicht etwas, vielleicht ja ADHS? Es passte einfach in kein Raster. Wir haben alle Tests gemacht, waren bei Ärzten und Psychologen. Immer mit dem gleichen Ergebnis: Das Kind ist völlig normal. Aber es verfügt über einen Mix von speziellen Charaktereigenschaften und ein intensives Gefühlsleben. Irgendwann haben wir gemerkt: Wir müssen dieses Kind so nehmen, wie es ist …

Wie können Eltern merken, ob sie ein gefühlsstarkes und nicht „einfach nur“ ein hochsensibles Kind haben?

Ich stelle in meinem Buch acht Kriterien vor, die dafür typisch sind, zum Beispiel: Starkes Gefühlsleben, großes Gerechtigkeitsempfinden,  Schwierigkeit mit Veränderung, das Bedürfnis nach Strukturen und der gleichzeitige Kampf dagegen. Und natürlich eine hohe Sensibilität. Nicht jedes hochsensible Kind ist auch gefühlsstark, aber fast jedes gefühlsstarke Kind ist hochsensibel! Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zu hochsensiblen Kindern ist, dass diese oft gute Schutzmechanismen haben. Sie merken: Mir wird das jetzt zu viel, ich muss mich zurückziehen. Diesen Schutz haben gefühlsstarke Kinder nicht. Sie kennen kein Ende und kommen nicht zur Ruhe. Ihr unglaublicher Entdeckerdrang und der Wunsch dabei zu sein, führt zu einer Reizüberflutung. Die Folge: es geht ihnen schlecht.

Dann müssen diese Kinder also sehr beschützt werden?

Ja! Ich bin davon überzeugt. Während sich Eltern mit regulationsstarken Kindern darauf verlassen können, dass ihre Kinder intuitiv wissen, wie viel Süßigkeiten und Medienkonsum gut für ist, haben gefühlsstarke Kinder starke Impulse und fühlen sich schnell damit alleine gelassen. Sie brauchen eine enge Führung und eine permanente Co-Regulierung, um alles zu bekommen, was gut für sie ist. Das war übrigens ein Umdenken für mich. Ich war überzeugt davon, dass Kinder von Anfang an sehr viel Kompetenz mitbringen und ihren Eltern signalisieren, was sie brauchen.-Das klappt bei gefühlsstarken Kindern nicht. Hier müssen Eltern klar sagen: jetzt wird gegessen. Jetzt ist Schlafenszeit. Jetzt machen wir mal eine Pause.

Kann sich das irgendwann auswachsen?

Ja, aber es braucht viel länger als bei anderen Kindern. Oft erst in der Pubertät. Wenn andere Eltern sagen: es wird immer schlimmer, dann sind die gefühlsstarken Kinder übrigens oft mit dem Gröbsten durch, aber nicht immer.

Können Eltern irgendwie dafür sorgen, dass ihr Kind nicht gefühlstark wird, oder ist es angeboren?

Es ist weitgehend angeboren. Das Buch erklärt die Zusammenhänge im Gehirn, die zu einem Übermaß an Gefühlen führen können. Das Emotionszentrum, die Amygdala, ist bei diesen Kindern leicht vergrößert und besonders empfindlich. Dieses gibt bereits bei einem geringen Stresslevel das Signal ans Stammhirn, in den Notfallmodus zu schalten. Diese Kinder können also gar nicht anders, als um sich zu schlagen,
zu schreien, zu verzweifeln, weil der Reißverschluss an der Lieblingsjacke kaputt ist. Eltern können es also nicht verhindern, dass ihr Kind gefühlsstark zur Welt kommt. Es gibt aber Indizien dafür, dass großer Stress in der Schwangerschaft diese Grundbedingungen begünstigen. Hier spreche ich aber nicht von Alltagsstress, sondern von schlimmen belastenden Situationen.

Sind Eltern also „schuld“ daran?

Nein. Entweder ist es angeboren oder wird ausgelöst durch Faktoren, die niemand absichtlich herbeigeführt hat. Frauen, die in der Schwangerschaft Gewalt erfahren haben, tragen daran ja keine Schuld. Und dass diese Kinder dann diese starken Gefühle entwickeln, ist zudem ein sinnvoller Schutzmechanismus. Sie müssen sich mehr beschützen, um nicht in einem feindlichen Umfeld unterzugehen, deshalb erregen sie mehr Aufmerksamkeit. Sie haben ein angeborenes Gefahrenbewusstsein. Wenn das Gehirn bereits im Mutterleib merkt: „hier bist du nie wirklich sicher“, dann ist es besser, hochintensiv auf Gefahren zu reagieren.

„Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Wir müssen uns sagen: Jetzt wissen wir es besser. Und jetzt machen wir es auch besser“

Wir haben bestimmte Aussagen bisher fest geglaubt. Zum Beispiel: „Geht es der Mutter gut, geht es dem Baby gut.“ Oder: „Entspannte Eltern haben entspannte Kinder.“ Beides gilt für diese Familien nicht. Wir als Eltern können also eigentlich gar nichts dagegen tun, wenn sich mein Kind so verhält?

Wir können es dem Kind nur erleichtern und uns mit unserem Kind verbinden. Viele Eltern sagen: Wenn mein Kind einen Wutanfall hat, dann erreiche ich es nicht mehr. Es ist wie weggebeamt, auf einen anderen Planeten. Aber das stimmt nicht. Auch im höchsten Wutanfall sind die Spiegelneuronen aktiv und achten genau darauf, wie sich das Gegenüber verhält. Wir befeuern kindliche Wut weil wir selber wütend werden. Ärger und Wut, mehr Ärger und Wut! Wie eine Eskalationskaskade. Die Mutter denkt: „Ich bin so wütend auf dich“. Die Neuronen spiegeln: „Ich auch! Ich auch, Ich auch“. Wir sollten uns in Stresssituationen gut um uns selbst kümmern. Ruhig atmen und uns klarmachen, dass unsere Kinder nicht anders können. Die Ruhe, die wir ausstrahlen, strahlt in das Gehirn unseres Kindes. So bauen wir ihm eine Brücke zurück vom „Planet Wut“.

Viele Eltern erkennen nicht nur ihre Kinder in dem Buch, sondern auch sich selbst und ihre eigene Kindheit wieder. Sie zitieren einen Betroffenen, der schreibt: „Ich konnte nicht verstehen, dass ich immer wieder dafür bestraft wurde, dass ich einfach nur ich bin.“ Noch immer wird auf auffällig agierende Kinder vor allem mit Druck und Strafe reagiert. Haben Sie ihr Buch auch für die Verantwortlichen in Kitas und Schulen geschrieben?

Ja absolut! Ein Ziel des Buches ist, dass die gefühlsstarken Kinder von heute, nicht die negativen Botschaften und Bewertungen verinnerlichen, die ihre Eltern mit sich herumtragen. Und ohne mein Zutun tragen die Eltern das Buch in Kitas und andere Einrichtungen, verschenken es an die Erzieherinnen ect. Auch von dieser Seite bekomme ich viel Feedback. Es gibt Fachkräfte, die schreiben mir von ihrem schlechten Gewissen, dass sie sich falsch und ungerecht verhalten hätten. Aber: Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Wir müssen uns sagen: Jetzt wissen wir es besser. Und jetzt machen wir es auch besser.

bw // Fotos: privat, fotolia

13. September 2018

1 Kommentar

Hallo,
Ich muss das Buch unbedingt noch lesen. Mich faszinieren die Unterschiede und Überschneidungen zwischen Hochsensibel, Gefühlsstark und ADHS, bzw. ADS ohne Hochsensibilität.
Ich habe als junge Erwachsene die Diagnose ADS bekommen und dann auch etwas zum Thema Hochsensibel gelesen. Allerdings habe ich diesen feinen Sinn für die Emotionen anderer normalerweise gar nicht. Bei meinen eigenen Kindern schon eher.
Mit dem Begriff gefühlsstark konnte ich zunächst allerdings gar nichts anfangen. Dann wurde mein 4. Kind geboren und holla, die ist sooo emotional heftig. Inzwischen denke ich, dass ich vermutlich auch gefühlsstark bin, nachdem ich fast depressiv wurde und mir jetzt erst bewusst wird, wie sehr ich eigene negative Gefühle ausgeblendet habe, weil ich sie nicht aushalten konnte.

Comments are closed.