„Matsch macht glücklich. Liebe macht schlau“

Hurrelmann-2014 9 Prof. Dr. Klaus Hurrelmann. Soziologe, Jugendforscher und Autor

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Hurrelmann, Sie gelten als „Deutschlands bekanntester Soziologe“, als der Jugendforscher und „Jugenderklärer“ schlechthin. Der Fokus Ihrer Forschungen liegt auf den 17- bis 30-Jährigen. Ihr aktuelles Buch (Stark in die Schule. Was Kinder vor der Einschulung brauchen. Beltz, 2015) widmet sich den ganz kleinen
Kindern. Wie sind diese frühen Jahre in den Focus der Bildungsforschung gekommen?

Es wird immer deutlicher, wie wichtig die ersten Jahre für den gesamten Bildungsweg sind. Ein schlechter Start ist für Kinder das Blockadeurteil schlechthin – nicht nur für die Schulzeit, sondern auch für den gesamten Lebensweg. Umso deutlicher uns dieser Zusammenhang wird, umso wichtiger wird das Thema der frühen Bildung.

An einer Stelle in „Stark in die Schule“ zitieren Sie Astrid Lindgren, jene Autorin, die mit ihren Geschichten über die unangepasste Pipi Langstrumpf bekannt wurde. Beim Lesen des Buchs bekommt man aber eher den Eindruck, dass wir unsere Kinder zu kleinen Tommys und Annikas erziehen sollen …

Das ist eine etwas tückische Frage. Weil: alle lieben Pipi Langstrumpf. Aber, sie ist nur eine Projektionsfigur dafür, wie wir das Leben gerne hätten. Sie spiegelt wider, wie wir uns eine Kindheit wünschen. Ein Kind wie Pipi käme in der heutigen Welt mit nichts zurecht. Und deshalb, ja, von kleinen Tommys und Annikas haben wir mehr.

Eine Aussage ist uns besonders aufgefallen. Wahrscheinlich weil sie einen empfindlichen Nerv der Menschen trifft, die heute Eltern sind: „Übertriebene Anerkennung kann die Leistungsmotivation eines Kindes empfindlich beeinträchtigen.“ Sollen wir jetzt nicht mehr loben? Ist Lob nicht die beste Motivation?

Beim Loben und Anerkennen gilt, es muss für das Kind nachvollziehbar sein. Übertriebene und ohne in Bezug zu Leistung stehende Anerkennung ist riskant. Anerkennung darf nicht umschlagen in eine unkritische Distanz dem Kind gegenüber, denn dann hat Loben keine Wirkung mehr. Das Kind bekommt vielmehr den Eindruck: egal was ich mache, meine Eltern finden alles toll. Warum soll es sich dann noch anstrengen.

Familie, so schreiben Sie, hat sich in eine Bildungsinstitution gewandelt. Setzt dies die Familien nicht noch weiter unter Druck? Jetzt sollen sie zu all ihren Aufgaben auch noch die Aufgaben der Schule übernehmen?

Das haben Eltern doch schon immer gemacht. Eltern müssen sich nur dessen wieder bewusster werden. Und diese Rolle, nämlich die der ersten Bilder ihrer Kinder, sorgsam ausfüllen. Die Familie muss als Bildungsinstitution offiziell anerkannt und gefördert werden. Alle Studien zeigen: Eltern haben den allergrößten Anteil am Bildungserfolg ihrer Kinder, sie sind praktisch der Schlüssel zum schulischen Erfolg ihrer Kinder.

Auf der einen Seite sagen Sie, dass Kinder gar nicht früh genug intellektuell gefördert werden können, auf der anderen Seite sprechen Sie von „Förderhysterie“ der heutigen Eltern und von „frühförderungsgestörten Kindern“, erkennbar an „überdrehten Müttern“. Ist das nicht ein Widerspruch?

Das ist tatsächlich ein Widerspruch. Hier sind wir bei der Frage der Dosierung von Anleitung, Anregung und Anerkennung. Ich habe sie die drei A des „Magischen Erziehungsdreiecks“ genannt. Kinder brauchen diese drei Dinge, aber in der richtigen Dosierung. Viele Eltern heute sind sehr ehrgeizig und drehen die Schraube immer höher – ohne einen realistischen Bezug zu den tatsächlichen Möglichkeiten des jeweiligen Kindes. Man muss immer wieder überprüfen: Sind meine Vorstellungen noch im Einklang mit dem Kind? Das ist schwer und vor allem: Man muss es bei jedem Kind aufs Neue lernen. 

Uns ist beim Lesen der durchgehend ökonomische Aspekt aufgefallen. Existiert wirklich keine Lebensfreude ohne Leistungsfreude? Kinder wollen doch auch mal nichts machen …

Allerdings. Das ist sicher ein kritischer Punkt. Wichtig ist, dass wir einen breiten Begriff von Leistung anwenden und Leistung nicht nur unter dem Verwertungsgesichtspunkt betrachten. Wir müssen Leistung als etwas verstehen, auf das Kinder stolz sein können. Lebensfreude erwächst aus Leistungsfreude, weil ich etwas mache, das der menschlichen Natur inhärent ist. Ich erfinde etwas, ich studiere etwas, ich erschaffe etwas, das mir und anderen hilft. Etwas, das über mich hinaus geht! Das ist ein tolles Erlebnis.

Sie schreiben: „Die sichere Bindung gilt als die wichtigste Voraussetzung für eine optimale Hirnentwicklung.“  Ist zu wenig an Liebe also verantwortlich, wenn mein Kind später kein kleiner Einstein wird?

Tatsächlich haben Studien der Hirnforschung ergeben: Eine sichere Bindung zwischen Eltern und Kind ist die Voraussetzung für ein erfolgreiches Lernen. Die Gewissheit, ich werde in meinem Zuhause akzeptiert und geschätzt. Kinder brauchen, um in der Schule erfolgreich zu sein, den dreifachen Dialog, die Basis allen Lernens sind die drei Schlaumacher. 1. Ich gehöre dazu. 2. Ich kann etwas und 3. Ich bin selbständig, ich kriege das hin.

„Matsch macht glücklich“, erfahren wir. Und Natur gehöre zu jeder Kindheit dazu. Aber von den Experimentierkästen in Kindergärten halten Sie nichts.

Diese Experimente können immer nur eine Notlösung sein. Natur, Garten, Werkstatt, das sind die besten Bildungseinrichtungen für kleine Kinder. Hier erfahren sie alles, was sie später verstehen müssen. Im vorschulischen Alter geht es darum, die Dinge sinnlich zu begreifen. Experimente sind totes Wissen und für Vorschulkinder verlorene Zeit.

Amerikanische Intelligenzforscher haben unlängst festgestellt: Intelligenz ist vererbbar, es ist slso angeboren, wie schlau wir sind.* Sie schreiben aber, dass „Gene eine Art Mitgift (sind) was daraus wird … hänge von der Erziehung ab.

Wir gehen davon aus: 50 Prozent sind genetisch angelegt, was wir aber daraus machen, hängt von der Erziehung ab. Von den Eltern, der Schule und wie bildungsförderlich die Umgebung ist. Die  Gene sind nur eine Mitgift, die gestaltet werden kann, eine Plattform, auf der ich mich entwickeln kann.

Und zum Abschluss sind wir neugierig, weil viele von uns kleine Kinder haben, die später mit einem Schlagwort wie „Generation soundso“ beschrieben werden. Die bis 2000 Geborenen heißen „Generation Y“. Haben Sie schon eine Bezeichnung für die Generation, die jetzt in die Schule kommt?

Nein. Das lässt sich noch nicht sagen. Wir können vermuten, dass es die Generation, die heranwächst, etwas leichter haben wird, als die Jugendlichen heute. Es wird nicht mehr ganz so kritisch sein, einen Ausbildungsplatz zu finden, die wirtschaftliche Lage wird sich entspannen. Insgesamt wird sie die neuen technischen Medien noch selbstverständlicher benutzen. Und es könnte sein, dass die kommende Generation wieder etwas weniger ängstlich und weniger angepasst – dafür wieder etwas neugieriger und experimentierfreudiger sein wird. Aber das können wir nur vermuten.

Interview: Bettina Wolf // Foto: privat
* www.zeit.de/2015/23/intelligenz-vererbung-iq-robert-plomin

Zur Person: Klaus Hurrelmann, (*10.1.1944 in Gdingen),ist ein deutscher Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler. Nach langjähriger Tätigkeit an der Universität Bielefeld arbeitet er seit 2009 als Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin. Bekannt wurde er in Deutschland für seine Mitarbeit an den Shell-Jugendstudien. In der Schul- und Bildungsforschung liegt der Hauptakzent seiner Arbeit auf Untersuchungen zu den familiären Ausgangsbedingungen von Schulerfolg und Schulversagen. Mit Hilfe der Sozialisationstheorie erklärt er die besonders in Deutschland sehr starke Abhängigkeit der schulischen Leistungen von der familiären Herkunft der Schülerinnen und Schüler durch das unterschiedliche Ausmaß von Anregungen und Anleitungen der Eltern.

10. September 2015
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1 Kommentar

Sehr geehrte Redaktion,

über das Interview von diesem wirklich berühmten Kollegen war ich erschrocken, besonders über die Forderung der „Familie als Bildungsinstitution“. Wie konservativ und rückschrittlich! Gepaart mit der Matschidee (sowas ähnliches hat Spitzer auch gesagt): Die Idealisierung der eigenen Kindheit („damals war die Welt noch in Ordnung“). Aber was sollen denn in Vollzeit berufstätige Eltern machen? Oder sozial und finanziell benachteiligte Eltern oder solche mit Migrationshintergrund? Wie soll soziale Benachteiligung jemals abgebaut werden (und natürlich der ebenso unweigerliche Karriereverzicht der Frauen)? Genau das sind doch die Gründe, weshalb Pädagogen und Politiker im Nachgang zu Pisa von Deutschland genau das Gegenteil fordern, nämlich Ganztagesschulen. Auf dieses unmittelbare Problem wurde leider im Gespräch nicht eingegangen (ich muss sagen, das Buch habe ich noch nicht gelesen).

Also eines will ich ganz deutlich sagen: Meine Kinder bekommen meine Liebe nicht durch ihre Leistung. Ich freue mich, wenn sie etwas leisten, ich bin stolz auf sie. Aber auch wenn sie versagen, liebe ich sie (und tröste sie sogar!). Auch wenn sie krank sind oder depressiv werden oder durch einen Unfall behindert: Hier zuhause werden sie immer geliebt. Leisten müssen sie für ihre Karriere, für ihren Beruf, für die Welt, in der sie bestehen müssen, aber nicht für die Familie, in deren Schoß sie jederzeit zurückfallen können, weil sie hier unabhängig von ihrer Leistung geliebt werden. Gelobt werden sie für Versuche und nicht für Erfolge, belohnt werden sie für Dinge, die sie für andere tun, nicht für solche, für die sie selbst etwas bekommen (nämlich Zeugnisse und Noten). Meine Tochter soll keine Bauchschmerzen bekommen vor Schulangst und keine Magersucht vor lauter Leistungs- und Kontrollzwang, und mein Sohn soll mir jeden Quatsch sagen können, den er gemacht hat, denn er kann mir vertrauen. Ich kritisiere, ich schimpfe, ich mahne, ich argumentiere, aber sie werden immer geliebt, weil sie meine Kinder sind (und nicht meine Studenten) und das können sie sehr gern wissen.

Ich denke, die Kinder müssen erfahren, dass sie für sich lernen. Die Schule ist ihre Sache. Nur so werden sie selbständig und intrinsisch motiviert. Wenn sie von meinem Lob abhängen oder von meiner Unterstützung, dann ist es nicht im eigentlichen Sinne ihre Leistung. Ich erkläre ihnen das System, die Strukturen, Prozesse und Wenn-Dann-Beziehungen, denn ich bin erwachsen und erfahren und kenne mich besser aus als sie, aber für ihre Leistungen bin ich nicht verantwortlich. Das ist natürlich ein bisschen Theorie, aber so ist ja auch das Interview.

Viele Grüße und danke für den Artikel
Sabine Windmann

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