Raum für alle

Luftige Städte, in denen sich Kinder sicher und selbstständig zu Fuß oder mit dem Fahrrad bewegen, in denen ältere Menschen sich in ihrem eigenen Tempo fortbewegen können, in denen für Autos Tempo 30 in jeder Straße gilt. Städte mit Vierteln, in denen Familien nicht nur wohnen, sondern fußläufig einkaufen können, in denen sie Kitas und Schulen und sogar Theater, Kinos und Museen mit dem Fahrrad erreichen können. Eine Utopie? „Nein, die Zukunft“, sagt Hannah Eberhardt. Sie ist Verkehrsplanerin in Heidelberg, Mutter, Fahrradfahrerin und Gründerin des Vereins fahrrad-und-familie.de. Der Verein berät Eltern zu den Themen Fahrradfahren mit Kind – oder auch mit Baby-, verleiht Lastenräder und Anhänger für den Alltag, damit „Eltern auch mal ausprobieren können, ob der Anhänger überhaupt durch die Wohnungstür passt“, und fragt sich, warum sich die Städte nur so langsam und zäh verändern, wo doch die Mehrheit der Menschen bundesweit hinter dem Thema „Verkehrswende“ stehe.

Erinnern wir uns an den ersten Lockdown im Frühjahr 2020. Die Straßen leergefegt, die Plätze und Parks still, Bilder von wilden Tieren, die sich bis in die Zivilisation vorwagten. Und immer mehr Menschen unterwegs auf Fahrrädern. In einigen Großstädten entstanden Pop-up-Fahrradwege, und wer im Frühling 2020 versucht hat ein Kinderfahrrad zu kaufen, musste lange suchen. „Der Markt für Kinderfahrräder“, so Hannah Eberhardt, „war leergefegt.“ Nie wurden mehr Fahrräder verkauft als 2020, nie entdeckten so viele Menschen das Radfahren neu für sich, wie während der Pandemie. Sichtet man Studien und Umfragen, so spricht sich die Mehrheit der Bevölkerung für autofreie Innenstädte aus, Bürgerentscheide zeigen, dass viele Menschen bereit wären, auf ihr Auto zu verzichten. Trotz der öffentlichen Zustimmung werden die Städte in der Regel in Deutschland noch immer vom Auto aus geplant. Der Straßenraum zwischen den Häusern ist in erster Linie für den Auto-Verkehr vorgesehen. Fußgänger, Fahrradfahrer, spielende Kinder müssen sich den Rest des Raums teilen. „Die Städte müssen diese Mobilität gestalten“, so Städteplanerin Eberhardt. Wir haben uns mit ihr über die fahrradfreundliche Stadt der Zukunft unterhalten.

Liebe Frau Eberhardt, in Zeiten von Corona ist der Anteil des Radverkehrs massiv gestiegen, der des ÖPNV drastisch gesunken. Was wir zurzeit erleben, ist eine zunehmende Verlagerung auf den privaten Pkw. Ist das Thema „Verkehrswende in der Stadt“ erst einmal auf Eis gelegt?

Hannah Eberhardt: Nein. Tatsächlich bedeutet die Corona-Zeit langfristig gesehen eine große Chance für ein Umdenken: Je größer eine Stadt ist und je schlechter die Luft, umso besser kann sich eine Virusinfektion ausbreiten. Schauen wir nach Mailand, Paris oder Brüssel. Hier wurden in Corona-Zeiten die Weichen für eine Veränderung des öffentlichen Raums gestellt. Auch in unseren Nachbarländern Niederlande und Dänemark hat das Fahrrad schon lange einen ganz anderen kulturellen Stellenwert. Die Chance, den öffentlichen Raum neu zu verteilen, ist aktuell so groß wie nie. Die Städte müssen diese Mobilität dringend gestalten. Und eine neue Aufteilung des Raums ist übrigens nicht nur eine Frage der Gesundheit, des Klimas und der Zukunft, sondern auch eine Frage der Gerechtigkeit: In den meisten Großstädten besitzt fast die Hälfte der Menschen kein Auto. Flächenmäßig beanspruchen Autos aber bis zu zwei Drittel des öffentlichen Raums.

Aber wird diese Veränderung auch von Dauer sein? Aktuell steigen immer mehr Menschen vom ÖPNV auf den eigenen PKW um.

Es gibt keine Alternative zu einem Umdenken. Aber es ist tatsächlich noch ein weiter Weg, die Politik müsste hier viel entschiedener vorgehen. Es ist auch zwiespältig. Zurzeit herrscht eine starke ÖPNV-Abstinenz. Die Verkehrsangebote müssen verbessert werden. Erst wenn es für Familien wirklich genauso einfach und schnell und sicher ist, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein, wie mit dem Auto, ist eine echte Verkehrswende in Sicht.

Aber selbst wenn sich die Städte so umgestalten, dass viel zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreicht werden kann: Die meisten Menschen pendeln zur Arbeit und nicht nur in Corona-Zeiten am liebsten mit dem eignen PKW.

Auch für Pendler gibt es viele Angebote. Zum Beispiel „Ride & Bike“. Entfernungen bis zu 20 Kilometern können mit dem E-Bike oder Pedelec bewältigt werden. Es gibt auch große Entwicklungen auf dem Faltradmarkt: Falträder, die man im Zug mitnehmen kann. Das war vor 20 Jahren ein Freak-Thema, heute ist es Trend.

Für Familien sind das aber keine Alternativen …

Auch für Familien tut sich viel. Stichwort Lastenfahrrad. Bis vor kurzem waren sie noch die absolute Ausnahme, heute sehe ich sie täglich. Auch bei den Anhängern hat sich viel getan oder bei den Kindersitzen. Die sind heute so sicher wie nie. Es sind Hightech-Sitze mit Polsterung und Fußsicherung.

Und wie müssen sich die Städte denn nun verändern?

Es müssen Städte werden, die Raum für alle bieten. Egal welches Alter. Kinder und alte Leute müssen sich sicher und frei bewegen können. Die Städte müssen mehr Platz für Aufenthalt einplanen und wir brauchen eine deutliche Stärkung des ÖPNV.

Sollte der ÖPNV folgerichtig kostenlos werden?

Für bestimmte Gruppen ja. Für Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen sind oder kleine Kinder haben. Es gibt auch gerade unter Hartz IV-Empfängern eine große Mobilitätsarmut. Wir brauchen aber nicht nur eine Stärkung der Infrastruktur, sondern auch einen Kulturwandel. In anderen europäischen Ländern, wie zum Beispiel den Niederlanden, hat das Fahrrad einen ganz anderen kulturellen Stellenwert. bw // Fotos: Kidical Mass; Adobe Stock

„Kidical Mass“

Unter dem Stichwort „Platz da für die nächste Generation“ fahren Kinder und ihre Familien in den Sommermonaten regelmäßig am 3. Sonntag im Monat auf einer abgesperrten Strecke von fünf Kilometern und machen so auf nachhaltige Mobilität aufmerksam. Sie erobern sich friedlich ihren Platz in den Städten zurück.

Die Termine fürs „Proberadeln“ beim Heidelberger fahrrad-und-familie.de: von März bis November jeden vierten Donnerstag im Monat von 16 bis 18 Uhr, das Ausleihen ist bis zu vier Wochen möglich. Infos auch unter 06221 9030505 oder verkehr-mit-koepfchen.de