„Autismus ist beides. Stärke und Störung“

Zu Besuch im Autismus Zentrum Bruchsal. Interview mit Gesamtstellenleiter Ulrich Zimmermann und Uschi Vocke, der therapeutischen Leiterin.

Sehr geehrter Herr Zimmermann, sehr geehrte Frau Vocke, was sind die größten Herausforderungen für Familien, die ein autistisches Kind bekommen?

Uschi Vocke: Das ganze Leben wird zur Herausforderung. Alles ändert sich. Das Familienleben wird sich für den Rest des Lebens darauf ausrichten müssen.

Sie bezeichnen Autismus als Störung, viele Betroffene wehren sich gegen diesen Begriff. Es sei weder Krankheit, noch Behinderung, noch Störung – nur ein Charakterzug.

Ulrich Zimmermann: Man muss hier sehr unterscheiden, das Spektrum von Autismus ist breit. Von frühkindlichem Autismus, der oft mit einer geistigen Behinderung einhergeht und wirklich eine schwere Beeinträchtigung bedeutet, bis hin zu einem Asperger-Syndrom.

Ist es nur ein gefühlter Eindruck, oder bekommt das Thema Autismus mehr und mehr Öffentlichkeit?

Zimmermann: Es stimmt. Das Thema ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Allerdings reden wir hier nur von den Menschen mit Asperger. Die lassen sich gut vermarkten, sie sind medienwirksam und spannend. Aber Menschen mit frühkindlichem Autismus, die ihr Leben lang bei jedem Handgriff auf Hilfe angewiesen sind, störende Geräusche machen oder sich den Kopf an der Wand blutig schlagen, die möchte niemand sehen. Daran hat sich nichts geändert.

Vocke: Und dabei geht es bei uns genau um diese Kinder.

Wenn Eltern ein autistisches Kind bekommen, was passiert dann?

Zimmermann: Erst einmal lange nichts.

Wann merken die Eltern denn, dass etwas nicht stimmt?

Zimmermann: Sofort

Wirklich sofort? Woran? Babys sind doch alle irgendwie in ihrer eigenen Welt.

Zimmermann: Aber nicht so. Die Eltern wundern sich, warum das Baby zum Beispiel nie lächelt. Kein Augenkontakt aufnimmt. Es findet keine Interaktion statt, oder das Baby weint über Monate.  Aber da die Kinderärzte oft wenig von Autismus wissen, werden die Eltern lange Zeit vertröstet. „Entspannen Sie sich“, bekommen die besorgten Mütter gesagt. Oder es wird auf die Umstände geschaut. Ist die Familiensituation vielleicht schwierig und hat das Kind deshalb eine Entwicklungsverzögerung? Oft wird erst im Kindergarten festgestellt, dass etwas nicht stimmt.

Warum im Kindergarten?

Weil die soziale Interaktion ein wichtiges Kriterium für Autismus ist. Kinder mit dieser Behinderung spielen aber nicht. Sie wissen nicht, wie das geht. Und sie nehmen auch keinen Kontakt zu anderen Kindern auf. Das fällt natürlich auf. Und selbst wenn sich das Kind noch irgendwie ohne Diagnose durch die Kitazeit kommt, spätestens bei der Einschulung ‚knallt es‘.

Wie reagieren Eltern auf die Diagnose Autismus?

Uschi Vocke: Die meisten sind einfach erleichtert. Überhaupt eine Diagnose zu bekommen. Endlich zu wissen, was mit diesem Kind nicht stimmt. Und auch zu wissen: wir sind nicht schuld.

Wie geht es dann weiter?

Uschi Vocke: Hier in der Region ist das Netz an Beratungsstellen und Hilfe relativ gut aufgestellt. Nachdem die Eltern die Zuständigkeiten geklärt haben und ein eine Pflegestufe eingeteilt wurden …

… das ist Voraussetzung für die Therapieplatz?

Ulrich Zimmermann: Das ist die Voraussetzung. Anders als Logo- und Ergotherapien, die diese Kinder meistens schon hinter sich haben, ist eine spezielle Autismustherapie keine Kassenleistung. Und werden deshalb auch nicht von den Krankenkassen bezahlt. Dazu kommt: ein Elternteil muss aufhören zu arbeiten, um das Kind zu betreuen, es zu den Therapien zu fahren und vieles mehr …

Das ist dann ja eine weitere Belastung für die Familie!

Ulrich Zimmermann: So ist es. Diese Familien bräuchten eigentlich viel mehr Unterstützung. Auch finanziell. Aber das möchte in Deutschland niemand bezahlen.

Uschi Vocke: Viele der betroffenen Eltern werden zu richtigen Autismus-Experten. Sie lesen sich in das Thema ein, bilden sich fort und sind sehr informiert. Alles dreht sich in diesen Familien für lange Zeit nur noch um das Thema Autismus.

Welchen Therapieansatz setzen Sie in Ihrem Haus um?

Uschi Vocke: Unsere Grundlage ist die Heilpädagogik, unsere Therapiekonzept ist stark an die „Teacch“-Methode angelegt. Wir legen viel Wert auf eine bestimmte Haltung jedem speziellen Kind gegenüber. Es gibt nicht den einen Autismus, jedes autistische Kind ist anders und braucht andere Dinge. Aber was allen fehlt ist eine Struktur. Wir arbeiten also sehr stark mit festen Strukturen, mit Ritualen, die immer wiederkehren. Nur so kann sich ein Kind mit Autismus überhaupt auf eine Therapie einlassen. Feste Strukturen und reizarme Räume.

Was halten Sie von ABA*?

Vocke: Wir arbeiten hier nicht mit ABA. Auf der anderen Seite sehen wir auch die Erfolge, die dieser Art der Therapie erzielt werden …

Menschen, die „im Spektrum“ sind und erwachsen werden, berichten, was ABA und andere Therapien, die ihnen ein bestimmtes Verhalten an- oder abtrainieren sollten, für eine Qual war. Das es fühlbarer körperlicher Schmerzen bereitete, Blickkontakt zu halten oder das Ertragen körperlicher Nähe lernen zu müssen.

Vocke: Aber was wäre die Alternative? Soll man diese Kinder einfach in ihrer Welt lassen? Wir wollen den Kindern ja nicht ihren Autismus abtrainieren, das geht ja auch gar nicht, aber es ist nun mal so: wir „neurotypischen“ Menschen sind die Normalen und sie müssen unsere Regeln lernen.

Sind wir wirklich die „Normalen“?

Vocke: Tatsache ist, wir sind einfach mehr. Und deshalb machen wir die Regeln. Kinder, die im Spektrum sind, haben ein Recht darauf, sich in „unserer“ Welt so gut es geht zurechtzufinden. Das geht nur mit viel Struktur und viel Geduld. Was die Gesellschaft nicht sieht: diese Kinder wollen lernen. Sie wollen Erfolgserlebnisse haben. Und sie haben dieselben Gefühle wie wir. Nur viel mehr davon. Filterlos strömen die Reize auf diese Kinder ein und überlagern sich. In ihnen toben Geräusche und Gerüche und Gefühle – und man sieht es ihnen von außen nicht an.

Dieser Zustand hört nie auf?

Vocke: Er hört nie auf. Autismus ist nicht heilbar. Aber: Diese Kinder bringen nicht nur viele Störungen mit, sondern auch ganz viel Stärke.

bw // Fotos: Autismus Zentrum Bruchsal, Pixabay

 

*Applied Behavior Analysis (ABA) bzw. Angewandte Verhaltensanalyse ist eine Therapie zur Behandlung unter anderem von autistischen Störungen, die auf einem behavioristisch geprägten verhaltensanalytischen Ansatz basiert. Sie wird vorzugsweise zu einem möglichst frühen Zeitpunkt bei Kindern mit Autismus / Asperger-Syndrom eingesetzt. ABA lehnt sich an die klassische Konditionierung an und baut auf den Prozess einer Verhaltensänderung hin zu prosozialem Verhalten sowie der Verringerung von nicht angepasstem und unangemessenem Verhalten ausgerichtet. Wie alle Austismustherapien stammt ABA aus den USA. Inzwischen ist die Therapie – vor allem durch Berichte erwachsener Autisten, die sich artikulieren können – nicht mehr unkritisch gesehen.

 

30. Juli 2019
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