Im Spektrum – Autismus

Das Thema Autismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Endlich könnte man sagen. Aber was wissen wir Nicht-Autisten eigentlich über diese Behinderung? Viele von uns wissen noch nicht einmal, was genau Autismus ist. Eine Art Störung? Eine Krankheit? Ist es angeboren und kann man es therapieren? StadtLandKind hat sich dem Thema von verschiedenen Seiten genähert. Unter anderem haben wir uns mit Jeanine Heise getroffen. Sie twittert unter @La_Violaine. Jeanine ist 34 Jahre alt und alleinerziehende Mutter einer Tochter. Und sie ist Autistin.

In den letzten Jahren sind die Zahlen der mit an Autismus, einer neuronalen Entwicklungsstörung, diagnostizierten Kinder stark gestiegen. Von 1000 Kindern haben etwa sechs bis sieben eine autistischen Störung, Jungen wurden viermal häufiger als Mädchen diagnostiziert. Inzwischen treten aber auch immer mehr Mädchen ins Blickfeld. Da Mädchen im Durchschnitt in ihrem Verhalten unauffälliger und sozial angepasster sind, fällt es erst später auf oder wird falsch diagnostiziert. Je mehr Autismus in den Fokus der Öffentlichkeit gerät, umso bekannter werden die oft als sehr drastisch empfundenen Therapieangebote, die das Ziel haben, autistische Kinder an ein „normales“ Leben anzupassen.

„Bitte sprechen Sie nicht von ‚Menschen mit Autismus‘. Ich nenne Sie ja auch nicht ‚Mensch mit Gebärmutter‘. Ich bin Autistin, ganz einfach.“ Wir sitzen im Hinterzimmer eines Cafés in Heidelberg. Hier haben wir uns mit @La_Violaine zum Interview verabredet. Hinter La Violaine steht Jeanine Heise, 34, alleinerziehende Mutter einer kleinen Tochter und diagnostizierte Autistin. Eigentlich hatten wir den ruhigen Nebenraum für das Gespräch reserviert; Jeanine Heise hatte im Vorfeld ihre Schwierigkeiten beschrieben, sich bei Unruhe und Ablenkung zu konzentrieren. Doch weil es heute regnet und viel los ist, wurde spontan ein zweiter Tisch in den kleinen Raum gequetscht, mit vier lustigen und nicht gerade leisen Damen … Jeanine Heise lächelt beruhigend. „Ich muss anschließend einfach eine längere Ruhephase einplanen“, erklärt sie und bleibt bis zum Schluss konzentriert und zugewandt.

„Ich war immer allein“

Die Diagnose Autismus bekam Jeanine Heise erst mit 28 Jahren. Neben Erleichterung über die Diagnose empfand sie auch Trauer, aber vor allem hatte sie endlich eine Erklärung für 28 Jahre voller Unverständnis, Alleinsein, Mobbing und Ausgrenzung. „Ich war immer allein“, fasst sie ihre Schulzeit zusammen. „Ich hatte nie eine Freundin, mein Alleinsein fiel nie auf, wir sind ständig umgezogen und so habe ich mir meine Isolation mit den vielen Umzügen erklärt.“ Und ihre Eltern, waren sie nicht besorgt?, gab es keine Hilfe? „Es gab in meiner Kindheit keinerlei Liebe und kein Interesse an mir oder meinen Problemen. Ich war sehr angepasst und habe immer funktioniert. Die fachlichen Anforderungen habe ich problemlos erfüllt, Abitur gemacht und eine Ausbildung begonnen.“ Doch kurz vor den Prüfungen zur Verlagskauffrau kam ihr erster großer autistischer Burnout. Damals, noch ohne eine Erklärung für die schweren Depressionen, kämpfte sich Jeanine langsam wieder ins Leben zurück. Lernte ihren heutigen Exmann kennen, heiratete, wurde schwanger und bekam ein Wunschkind. „Die Schwangerschaft habe ich sehr intensiv erlebt. Und im Gegensatz zu verbreiteten Klischees hatte ich sofort Muttergefühle. Ich habe sofort Verantwortung gespürt für dieses kleine Wesen, das in mir wächst. Ich habe am Ende der Schwangerschaft auch gespürt, dass etwas nicht stimmt.“ Der Arzt nahm die werdende Mutter nicht ernst. Ein Schicksal, das sie mit anderen Autisten teilt. Da Autisten ihre Anliegen und Beschwerden meistens sehr direkt, konkret und sachlich vorbringen, ohne Emotionen, ohne Gefühlsausbrüche, neigen Ärzte dazu, ihre Belange nicht wirklich ernst zu nehmen. Und nur weil Janine Heise nicht locker ließ und auf einen Kaiserschnitt bestand, konnte das Kind gerettet werden: die Nabelschnur hatte sich bereits drei Mal um den Hals des Babys gewickelt. Und wie ist das mit der Liebe? Mit der Mutterliebe zu ihrem Kind? Angeblich sind Autisten doch ohne Empathie, ohne Gefühle für andere? „Liebe geht!“, antwortet Jeanine und lacht. „Das musste ich zum Glück nicht lernen.“ Doch erst einmal wurde alles sehr schwierig. Ihr Ehemann war mit ihr und ihrer postnatalen Depression überfordert, auch mit der inzwischen erfolgten Diagnose Autismus wollte er sich nicht beschäftigen. Die Ehe zerbrach und Jeanine Heise musste mit ihrer Tochter zu ihren Eltern zurückziehen. Eine schon für „normale“ Menschen fast unerträgliche Belastung. Doch die 34-Jährige schaffte es, für sich und ihre Tochter eine Wohnung und später einen Kitaplatz zu finden. Immer noch funktionierte sie. „Ich durchlebte diese Ausnahmesituation wie auf Autopilot geschaltet.“ Autisten sind gezwungen, sich permanent an eine ihnen fremde und für sie unvorstellbar anstrengende Welt anzupassen. „Auf uns stürmen Geräusche und Gerüche wie ein Reizgewitter ein. Wir können kaum etwas davon filtern oder ausblenden“, erklärt Jeanine Heise (während die Kaffeemaschine im Hintergrund wirklich sehr laute Geräusche macht. Oder kommt uns das jetzt nur so vor?). Und je mehr Autisten versuchen zu kompensieren und sich anzupassen, umso eher kommt es zum Burnout.

Nach ihrem zweiten großen Zusammenbruch vor anderthalb Jahren beschloss Jeanine sich Hilfe zu suchen. Bis heute ist sie krankgeschrieben, aber durch die begonnene kognitive Verhaltenstherapie wurde vieles leichter, besser und zum ersten Mal konnte sie auch ihre schmerzhafte Kindheit aufarbeiten. Den Kontakt zu ihren Eltern hat sie inzwischen abgebrochen. Auf ihre Autismus-Diagnose reagierten die Eltern mit Empörung. Was das denn jetzt schon wieder solle …

So sehr Jeanine ihr Kind liebt und spürt, was es braucht, so schwer fallen ihr die Dinge eines „normalen“ Alltags mit Kind. „Auf den Spielplatz gehen wir lieber, wenn er leer ist“, erzählt sie. „Und einkaufen gehe ich morgens schnell alleine, wenn noch nicht so viele Leute unterwegs sind. Trotzdem überfällt Jeanine an der Kasse oft das Bedürfnis „einfach rauszurennen“. Auch Telefonate versucht sie zu vermeiden. „Telefonieren ist für Autisten purer Stress, erzählt die junge Mutter. „Die vielen Hintergrundgeräusche … und dann wissen wir nie genau, wann wir jetzt etwas sagen sollen. Ganz schlimm wird es, wenn jemand sagt, er rufe zurück. Dann sitze ich wie festgewachsen neben dem Telefon und kann in der Zeit nichts anderes machen.“ Termine macht sie deshalb lieber persönlich aus oder natürlich übers Internet, in dem sich viele Autisten inzwischen bestens vernetzt haben, aufklären, sich austauschen und auch vor Therapieangeboten warnen. Und ihre Tochter hatte noch nie eine Kindergarten- Freundin zu Besuch. „Das wäre aufgrund der vielen Reize für mich nicht möglich, zu einer Kiga-Freundin bringe ich sie natürlich gern“, erzählt die junge Mutter. Noch kommt Jeanines Tochter prima damit zurecht, sie kennt es ja nicht anders. Ihre Geburtstage werden im Kindergarten gefeiert und wenn Mama eine Auszeit braucht, malt die 6-Jährige ein Bild oder puzzelt.

„Telefonieren ist für Autisten purer Stress“

Und was ist mit den klischeehaften Vorstellungen, die wir von Autisten haben, dass sie keinen Augenkontakt halten können, oder keine Berührungen ertragen? Auch hier hat sich Jeanine Gedanken gemacht. „Durch meine schwierige Kindheit war ich gezwungen, Emotionen lesen zu lernen, um zu überleben. Ich musste lernen fühlen zu können, wie meine Eltern gelaunt waren, um Strafen oder Schläge zu vermeiden.“ Und ihr Leben heute? Kann man ein „gutes Leben“ leben, trotz Autismus? Jeanine Heise hat es jedenfalls geschafft. Ihren neuen Partner, mit dem sie derzeit noch eine Fernbeziehung führt, hat sie Ende letzten Jahres auf einer Zugfahrt kennengelernt und sich getraut ihn anzusprechen. Ihr Autismus ist für ihn kein Problem und für die Tochter ist er ein begeisterter Ersatz-Papa. Und Jeanine Heise hat gelernt ihre Grenzen zu akzeptieren, Strategien zu entwickeln, um mit der Welt klarzukommen. Das Bewusstsein, auch ‚nein‘ sagen zu dürfen und ihre Bedürfnisse zu artikulieren, musste die Autistin erst in der Therapie lernen. „Das ist das Gefährliche an den unmenschlichen Therapien, mit denen man autistische Kinder behandelt“, macht sie ihren Standpunkt klar. „Sie müssen sich um jeden Preis anpassen. Vielleicht bringt das sogar kurzfristige Erfolge, aber dann brechen wir zusammen. Niemand kann sein Leben lang kompensieren und seine eigentlichen Bedürfnisse – die nach einer reizarmen Umgebung, nach Ruhe und Klarheit – unterdrücken. Nicht umsonst ist die Suizidrate unter Autisten so hoch.“ Die beste Hilfe sei, sagt Jeanine zum Abschied, Verständnis. Und ja, „Autismus ist eine Behinderung. Aber eine Behinderung ist auch kein Weltuntergang.“ bw // Foto: privat

Mehr zu Jeanine Heise unter: twitter.com/La_Violaine

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