Maurizios Welt

Zu Besuch bei Maurizio und seiner Familie in Trösel. Er ist acht Jahre alt und liebt die Natur. Vor allem Insekten, Kröten und Käfer. Maurizio ist Autist.

Die Kröten sind heute nicht da. Maurizio macht sich auf die Suche. Der Achtjährige kraxelt über die Steine am Rande des Gartenteiches entlang, den Blick zielstrebig nach unten gerichtet. Er sucht in den Steinritzen nach den Tieren, schaut hinter Pflanzen nach, doch die Kröten lassen sich nicht blicken. Maurizio nähert sich dem Teichgitter. Seine Hand steckt er diesmal nicht zwischen den Stäben hindurch. Beim letzten Mal hatte er sich dabei verletzt, seine Mutter Anna Onorato hatte die blauen Flecken an seinem Arm abends beim Baden entdeckt. Maurizio macht sich nichts daraus: Der Achtjährige spürt in seinem Entdeckungswahn weder Schmerz, noch Hunger oder Durst. Wenn Maurizio die Welt entdeckt, ist er intensiv mit ihr beschäftigt – eine Folge seiner besonderen Wahrnehmungs- und Verhaltensstörungen, die der so genannten Autismus-Spektrumsstörung zugeordnet werden.

Anna Onorato war 25, als sie Maurizio bekam. Während der überwiegend unkomplizierten Schwangerschaft gab es keine Anzeichen, dass mit Maurizio etwas nicht stimmte. „Prä-Diagnostik oder der Nackenfalten-Test kamen für mich aus Prinzip nicht infrage. Ich wollte das Kind so bekommen, wie es ist“, sagt die heute 33-Jährige. Maurizios Geburt verläuft problematisch: Als sich seine Herztöne verlangsamen, bringt ihn Anna via Notkaiserschnitt zur Welt. „Ich habe ihn kurz gesehen, dann waren wir zwei Tage lang getrennt. Er lag in Heidelberg, ich in Weinheim. Wir hatten einen blöden Start“, erzählt Anna. Das habe jedoch keine Auswirkung auf die enge Beziehung gehabt, die sie mit „Mauri“ pflegt. „Mit ihm bin ich ganz anders verbunden als zum Beispiel mit seinem kleinen Bruder, Matteo“, sagt Anna. Als Baby ist Maurizio körperlich gesund, doch er verhält sich anders. Statt die Personen um sich herum zu fixieren, geht sein Blick ins Leere. Die Familie beginnt mit Ergo-, Logotherapie und Heilpädagogik. Einen Gentest machen die Onoratos erst nach einer Untersuchung im Sozialpädiatrischen Zentrum Heidelberg. Da ist Maurizio bereits vier, fünf Jahre alt. Das Ergebnis: Maurizio hat, neben seinem diagnostizierten Autismus, das ATR-X-Syndrom, ein Gendefekt, der bei männlichen Nachkommen zu Entwicklungsverzögerung oder Fehlbildungen führt. Die Diagnose habe Anna nicht überrascht: „Weil Maurizio schon früh auffällig war und wir schon so früh mit den Therapien begonnen haben, war es befreiend, endlich auch den Namen zu kennen. Das brauchte es, um voranzukommen.“        

   Weder Schmerz, noch Hunger, noch Durst    

Zum Zeitpunkt des Gentests war Anna Onorato mit ihrem zweiten Sohn schwanger, Matteo. Als die Ärztin von Annas Schwangerschaft erfährt, sagt sie: „Warum haben Sie denn nichts gesagt. Dann hätten wir etwas machen können.“ Anna ist verwirrt. Lassen sich Gene etwa beeinflussen? Nein, antwortet die Ärztin, aber in Frankfurt gebe es eine Klinik. „Dort machen die das noch bis zur 28. Schwangerschaftswoche weg.“ Den Satz wiederholt sie mehrmals – bis Anna sauer wird. Ihr Kind abzutreiben, sagt sie, komme nicht infrage. Matteo ist heute drei Jahre alt, auch bei ihm gibt es Anzeichen auf die Erbkrankheit. Bald wird auch er auf das ATR-X-Syndrom getestet. „Dann fängt das Spiel wieder von vorne an“, sagt Anna Onorato.

Die Kröten zeigen sich noch immer nicht. Maurizio versucht ein letztes Mittel: „Quakt mal bitte!“, ruft er. Nichts. Maurizio lässt von seiner Suche ab und widmet sich der nächsten Aufgabe: Schmetterlinge fangen. Der schmale Junge mit den großen Augen und langen Wimpern läuft, den Käscher in der Hand, einen Stock in der anderen, den Steinweg im Garten entlang. Klettert den Hang hinter dem Haus der Onoratos in Trösel hinauf, bleibt stehen und konzentriert die Insekten, die an ihm vorbeifliegen. Sein Blick scheint jedes einzelne Tier wahrzunehmen, das an ihm vorbeifliegt. Während Maurizio von scheinbar unspektakulären Dingen minutenlang gefesselt ist, schwindet seine Konzentrationsfähigkeit bei anderen Aktivitäten – beim Malen oder Basteln etwa – binnen weniger Sekunden. 

Maurizio beobachtet und strahlt – ein offensichtliches Zeichen seiner Lebensfreude. Im Winter ist er drinnen wie eingesperrt, doch der Frühling bedeutet für ihn Erlösung. Dann kann er wieder in den Garten, sein Paradies. Da ist zum einen die Vielfalt an Tieren, die dort lebt und die Außenstehende meist nicht sofort wahrnehmen: Maurizio entdeckt bei seinen Streifzügen Käfer, trifft auf Blindschleichen, im Wald hört er die Vögel und entdeckt sie sofort in den Baumwipfeln – „ich sehe nur die Bäume“, sagt Anna Onorato. Der Garten ist Maurizios Rückzugsort nach der Schule. „Sonst wird ihm alles zuviel, schließlich prasselt alles ungefiltert auf ihn ein“, sagt Anna Onorato. Maurizio verarbeitet die Dinge anders. Das Aussieben von Informationen ist für ihn schwierig. Maurizio ist im dritten Jahr an der Seebergschule in Mörlenbach, eine Ganztagsschule mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Neben einigen strengen Regeln unterrichten die Lehrer ihre Schützlinge mit dem nötigen Maß an Zuneigung. Neben Deutsch und Mathe lernt Maurizio, alltägliche Sachen zu meistern – das Frühstück zuzubereiten, einzukaufen, sein Brot zu belegen. „Er braucht keine Chemieformeln. Er muss lernen, irgendwann allein zurechtzukommen“, sagt Anna Onorato. Hin und wieder verbucht Maurizio kleine Erfolgserlebnisse, etwa beim Schreiben oder Lesen. „Ich glaube, er lernt die Worte auswendig. Dennoch überrascht es mich jedes Mal, welchen Fortschritt er in der Schule macht“, sagt Anna Onorato. Was danach komme, wisse sie nicht.

Abstriche, Kompromisse, eine Rundum-Organisation prägen den Alltag der Onoratos.  „Im Grunde können wir nichts für uns unternehmen. Und wenn, dann rennen wir nur umher und schauen zu, dass nichts passiert.“ Ihr Mann sei natürlich auch für die Kinder da, sagt Anna, dennoch habe er manchmal Schwierigkeiten, Maurizio zu verstehen. „Mauri und ich haben nun mal viel durchgemacht. Ich kriege seine Therapien hautnah mit.“  Die Familie stemmt den Alltag mit Maurizio und Matteo gemeinsam mit den Schwiegereltern. Das Paar lebt zusammen mit Annas Eltern in deren Haus. Hinzu kommt der große bürokratische Aufwand, wenn es um die finanziellen und betreuenden Unterstützungen geht (angefangen mit den immer wieder auszufüllenden Formularen der Integration im Kindergarten, über die Anträge für Hilfe zu Hause, bis hin zum Antrag auf Konstenübernahme einer Autismustherapie. Man ist immer am kämpfen.) „Das alles ist eine Riesenaufgabe“, sagt Anna Onorato. Ihr Mann ist tagsüber unterwegs, Anna Onorato ist selbstständig, arbeitet 18 Stunden pro Woche und setzt sich abends noch an die Arbeit, wenn die Kinder bereits im Bett sind.

Es wird nicht besser werden. Nur anders.“

Wenn absehbar ist, dass sich eine Alltagsroutine ändert, muss Anna Maurizio Tage im Voraus daran gewöhnen. Etwa, wenn mal nicht ihre Mutter, sondern sie selbst ihn zum Schultaxi begleitet. Auch mit Versprechungen, die nicht eingehalten werden, hat Maurizio Probleme. Heute will er eigentlich unbedingt in den Heidelberger Zoo, doch dafür bleibt keine Zeit. „Wenn wir morgen früh gehen, ist es nicht so heiß wie heute. Abgemacht?“, versucht es seine Annas Mutter Daniela Knapp. „Nein“, sagt Maurizio, und springt aufs Trampolin. Ruhe kehrt bei ihm nur selten ein. „Maurizio ist wie ein Husky“, sagt Anna Onorato scherzend, „er braucht Auslauf, muss sich viel bewegen, damit er abends müde wird.“ Ein Nachteil seines Bewegungsdranges: Maurizio neigt dazu, wegzulaufen, und muss darum ständig unter Beobachtung stehen, selbst während der halben Stunde, die Anna Onorato zum Wäschewaschen nutzt. Dennoch schafft es Maurizio trotz abgeschlossener Türen und abmontierter Fenstergriffe im Haus, abzuhauen – dann eben durch offene Fenster im Schlafzimmer.

Statt auszugehen, lädt das Paar Freunde zu sich nach Hause ein – Freunde, die die Kinder so akzeptieren, wie sie sind. Die nicht durchdrehen, wenn Maurizio in einem unbeobachteten Moment die E-Zigarette eines Gastes im Teich versenkt. Das sei alles andere als selbstverständlich „Wir haben schon unheimlich viele negative Erfahrungen gemacht“, erzählt sie. Wenn die Familie unterwegs ist, erntet sie viele skeptische Blicke, Getuschel, sogar Beleidigungen oder offenkundige Abscheu. „Oft wird uns auch gesagt, wie wir ihn richtig zu erziehen haben, zum Beispiel  mit Sätzen wie: ‚Seien Sie mal strenger‘ oder ‚dem müssen Sie mal Manieren beibringen‘, oder ‚bei mir würde es das nicht geben‘.  Ich möchte Maurizio beschützen und versuche sein Verhalten zu erklären, dabei geht es die Leute ja eigentlich gar nichts an.“

LM // Fotos: SLOE

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