„Bildet Lebensgemeinschaften!“

Remo H. Largo, geboren 1943 in Winterthur, war bis zu seiner Emeritierung 2005 Professor für Kinderheilkunde. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten, die sich mit der kindlichen Entwicklung beschäftigen. So viel zu den Fakten. Für zahllose Eltern bedeutet die Arbeit Largos viel mehr. Seine Bücher „Babyjahre“ und „Kinderjahre“ sind treue Begleiter und Mutmacher für die ersten Jahre. Remo Largo ist ein „Anwalt der Kinder“, jemand, der konsequent die Seite der Kinder einnimmt. Wir haben uns mit Remo Largo über das Wechselmodell als Standardmodell für Scheidungskinder gesprochen und darüber, wie Familie gelingen kann.

Sehr geehrter Herr Dr. Largo, seit einiger Zeit wird in Deutschland intensiv über das Wechselmodell für Kinder getrennter Eltern diskutiert. Es soll Leitbild oder sogar Gesetz werden. Das Modell setzt eine große Kooperationsbereitschaft auch stark zerstrittener Eltern voraus. Würden Sie das Wechselmodell als kindgerecht bezeichnen – oder doch eher als elterngerecht?

Bevor Sie mir Ihre Fragen stellen, darf ich Sie vielleicht fragen: Haben Sie eine Familie, haben Sie Kinder?

Meine Tochter ist 10 mein Sohn ist 13 Jahre alt.

Zu Ihrer Frage: Ich frage mich, wie man überhaupt auf dieses Wechselmodell gekommen ist. Ich habe den Eindruck, hier geht es um eine rein rechtliche Frage. Das Kind wird reduziert, auf ein Sachding. Es steht in einer Reihe mit den Fragen: Wem gehören die Möbel?, wem gehört das Auto, Wem gehört das Kind? Die Gerichte wollen für die Eltern eine Lösung finden und vergessen dabei das Kind. Mir scheint das Wechselmodell in bestimmten familiären Situationen sinnvoll zu sein, aber als Standardmodell finde ich es unbrauchbar.

Angeblich ist das Wechselmodell ja das Beste für Scheidungskinder.

Alle reden vom Kindswohl, aber kaum jemand macht sich klar, was damit eigentlich gemeint ist. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn sich der Vater vor der Trennung wenig um die Kinder gekümmert hat – wie soll das Wechselmodell dann funktionieren? Grundvoraussetzung ist doch, dass der Vater alle Bedürfnisse der Kinder erfüllen kann. Dafür muss er sich bereits vor der Trennung allein um die Kinder gekümmert haben, in den Ferien oder am Wochenende. Die Frage, bei wem die Kinder nach einer Trennung aufwachsen, ist eigentlich keine Frage für einen Richter, sondern für eine Mediation.

Was sind die wichtigsten Voraussetzungen, dass sich Kinder trotz Trennung gut entwickeln?

Entwicklungsbiologisch gesprochen müssen sechs Grundbedürfnisse von Kindern erfüllt werden. Kinder wollen Hunger und Durst gestillt haben. Sie wollen sich geborgen fühlen und ausreichend Zuwendung bekommen. Schon ganz kleine Kinder wollen soziale Anerkennung, eine Stellung in einer Gruppe. Sie möchten ihre Begabungen zur Entfaltung bringen, Leistung erbringen, und Kinder wollen in einer Gemeinschaft leben, deren existentielle Sicherheit gewährleistet ist. Ob ein Kind sich entfalten kann und zu dem Wesen werden kann, das in ihm angelegt ist, hängt davon ab, wie gut seine Grundbedürfnisse erfüllt werden. Das gilt für alle Kinder, und natürlich besonders für Kinder, deren Eltern sich trennen.

Können Kinder glücklich sein, wenn ihre Eltern unglücklich sind?

Wenn Menschen sich scheiden lassen, sind sie erst einmal unglücklich. Das lässt sich auch so schnell nicht ändern. Eltern sollten sich deshalb Hilfe holen und das Glück ihrer Kinder auf viele Schultern verteilen – die der Großeltern, Nachbarn, Freunde … Zu denken, dass Eltern allein für das Wohlbefinden ihrer Kinder verantwortlich sind, das funktioniert nicht. Bis vor einigen Jahrzehnten sind die meisten Kinder nicht nur in Familien, sondern in Lebensgemeinschaften aufgewachsen. Neben den Eltern gab es weitere Bezugspersonen, es fühlten sich viele Menschen verantwortlich. aber heute lastet oft alles allein auf den Eltern und das führt unweigerlich zu einer Überbelastung.

Das Konzept Patchworkfamilie sehen Sie nicht unkritisch. Kommt dies nicht in die Nähe einer Lebensgemeinschaft?

Nein, das ist etwas ganz anderes. Ich bin skeptisch in Bezug auf Patchworkfamilien. Die Belastung wird durch die Gründung einer Folgefamilie ja nicht kleiner, sondern sie nimmt aus unterschiedlichen Gründen zu. Aus sozialen Gründen und aus finanziellen, es kommt zu einem Mehraufwand an Beziehungsarbeit. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese zweite Familie auseinandergeht, ist hoch. Man sollte es sich also vorher sehr gut überlegen wie man das Zusammenleben zukünftig gestalten will.

Kann Patchwork nicht auch ein Gewinn für Kinder sein?

Nicht wenn es darum geht, dass Eltern ihre eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund stellen. Es sind oft unrealistische Erwartungen, die die Gründung einer neuen Familie begleiten. Während die Kinder noch unglücklich über die Trennung sind, müssen sie sich in einer neuen Familie mit frisch verliebten Erwachsenen auseinandersetzen.

Haben wir es richtig verstanden: Sie empfehlen (nach skandinavischem Vorbild), dass sich Eltern, bevor sie sich scheiden lassen dürfen, erst einigen müssen, bei wem die Kinder wann leben?

Absolut! Weil die Eltern dann mehr Interesse haben eine gute Lösung zu finden. Aber das geht nicht allein. Die Familien brauchen ein Coaching. Man sollte sich zusammensetzen und genau überlegen: wer hatte bisher welche Aufgabe, wer war für was in der Familie zuständig? Wie waren die Kinder betreut und wie soll das zukünftig sein. Dazu brauchen Familien einen Coach, eine Begleitung, die sagt: werdet jetzt konkret! Damit nicht im Nachhinein Chaos und Streit andauern. Die Gerichte sollten sich strikt weigern, hier eine Entscheidung zu treffen. Sie sollten von den Eltern und der Fachperson eine genaue Beschreibung verlangen, wie es in Zukunft laufen soll und was die beste Lösung für die Kinder ist.

Können sich Kinder nur gut und glücklich entwickeln, wenn sie guten Kontakt zu Vater UND Mutter haben?

Das Wohlbefinden eines Kindes ist dann gewährleistet, wenn es sich geborgen fühlt und alle seine Grundbedürfnisse ausreichend befriedigt werden. Dies kann von Mutter und Vater, aber auch von anderen Bezugspersonen gewährleistet werden. Eine gesellschaftliche Entwicklung, die ich ganz wunderbar finde, ist die der Lebensgemeinschaften. Immer mehr Menschen tun sich zu Lebens- und Wohngemeinschaften zusammen und sind so nicht mehr allein für die Kinder verantwortlich. Die Eltern sind entlastet und die Kinder wachsen mit verschiedenen Bezugspersonen auf. Ich halte dieses Modell für sehr vielversprechend. So kann Familie in Zukunft gelingen.

Eltern haben große Schuldgefühle, wenn sie sich trennen. Und dieser Filter aus Schuldgefühlen verhindert, dass sie die aktuellen Bedürfnisse der Kinder wahrnehmen …

Das ist verheerend! Die Eltern stehen hier voll in der Verantwortung. Sie dürfen ihre Streitereien, die sich ja oft jahrelang hinziehen, nicht als Entschuldigung nehmen, die Kinder aus dem Blick zu verlieren. Ich muss es ganz klar sagen: Wenn es den Kindern nicht gut geht, dann sind die Eltern schuld. Punkt.

Wenn wir diesem Interview mit: „Nehmt euch zurück!“ überschreiben würden. Wären Sie damit einverstanden?

Wie meinen Sie das? Was verstehen Sie unter „zurücknehmen“?

Die eignen Bedürfnisse zurückstellen und die der Kinder in den Vordergrund.

Ja, im Prinzip schon. Aber das Problem ist doch, dass Eltern oft nicht klar ist, was die Grundbedürfnisse der Kinder sind. Ihre eigenen Bedürfnisse verstellen den Eltern die Sicht auf die Kinder.

Warum gehören die Probleme, mit denen sich Scheidungsfamilien konfrontiert sehen, zu den „großen Ungereimtheiten
unserer Zeit“?

Ungereimtheiten? Für mich ist das Hauptproblem, dass die Entwicklung in den letzten Jahrzenten in zwei Richtungen geht: anonyme Massengesellschaft und Kleinstfamilie stehen nebeneinander. Was fehlt ist das Dazwischen. Die Gemeinschaft. Die Menschen haben während 200 000 Jahren in Lebensgemeinschaften gelebt. Die Kleinfamilie von heute kann nur im größeren Zusammenhang einer Lebensgemeinschaft funktionieren. Familie war nie ein soziales Eiland, sondern immer in die Lebensgemeinschaft eingebunden. (Siehe auch: Remo Largo. Das passende Leben. Fischer Verlag)

Wir müssen uns von dem Familienbegriff der letzten Jahre trennen, haben wir in „Glückliche Scheidungskinder“ gelesen. Welcher Begriff kann folgen, der nicht zu beliebig ist.

Der Begriff ist schon sehr beliebig geworden! Wenn wir ehrlich sind, definiert sich Familie nur noch über die Kinder. Aber wir machen uns zu wenig Gedanken, was Kinder wirklich brauchen.

Kann Familie heute alles sein?

Wir gehen davon aus, dass die Familie heute immer noch so ist, wie sie früher war. Aber diese Familie gibt es nicht mehr. Schaut man sich Familienfotos von vor 100 Jahren an, da passten doch kaum alle Menschen auf das Bild. Heute ist das oft nur eine einzige Person mit ein oder zwei Kinder. Wir müssen zukünftig die Familien wieder in Gemeinschaften einbinden. Nicht nur die Eltern, auch die Kinder brauchen mehrere Bezugspersonen und vor allem andere Kinder.

bw // Foto: Fotolia // Erwin auf der Mauer/Piper Verlag

 

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1 Kommentar

Jürgen Danneberg juergendanne21@aol.com

Ich bin auch Vater von zwei Töchtern aus erster Ehe.
Jetzt sind Sie groß. Jetzt habe ich ein gutes Verhältnis zu Ihnen aber das war eine harte Zeit psychischer Belastungen für alle.
Meine Schwiegermutter war übrigens keine Hilfe dabei. Sondern Sie war mit ein Scheidungsgrund mit ihrer dominanten Selbstliebe.
Das mit der Wohngemeinschaft klingt gut. Dazu braucht man aber die passenden Vorraussetztzungen und Personen.

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