„Keine Rettung, aber ein Pflaster“

„Traumatisierung“ bedeutet, dass im Gehirn eines Menschen eine Art Notfallprogramm aktiv wird, das die Steuerung übernimmt, um den Menschen vor weiteren Verletzungen und Grenzüberschreitungen zu schützen. Bei Kindern kann sich dies in Angst, Reizbarkeit, Aggressivität und anderen Auffälligkeiten äußern. Sinnvolle Strategien, die verhindern sollen, den erlebten Gefahren erneut ausgeliefert zu sein. Sind Kinder durch Fluchterfahrung, Migration oder Gewalt in der Familie
traumatisiert, so zeigen sich diese Folgen oftmals nicht unmittelbar. Nur zögerlich machen sich die seelischen Verletzungen bemerkbar. Und dies muss nicht nur mit Flucht- und Kriegserfahrungen zusammenhängen, auch Gewalt, Ausgrenzung oder Vernachlässigung können Kinder nachhaltig traumatisieren.

Doch wo beginnt bei Kindern ein Trauma? Wie lässt es sich abgrenzen von „normalen“ unruhigen Phasen und Konflikten zuhause? Und wie lässt sich feststellen, ob Kinder langfristig Hilfe bei einem Arzt oder Therapeuten brauchen? Hier setzt die neu gegründete „Psychosoziale Stabilisierungsgruppe für Kinder“ an.

Eigentlich wären Helfer und Räumlichkeiten bereit gewesen, für die erste Kindergruppe in den Räumen der evangelischen Paul-Gerhardt-Gemeinde: „Wir mussten wegen der Pandemie vieles neu denken und Termine verschieben“, sagt Cigdem Erdis. Sie ist Projektleiterin der Gruppe, Sachgebietsleitung Flucht und Migration beim Diakonischen Werk Mannheim, ausgebildete Erzieherin und Sozialarbeiterin. Beste Voraussetzungen also für ein neues Angebot, das Lücken schließen wird in der Betreuung von traumatisierten Kindern und ihren Familien. Die Kinder- und Jugendgruppen sollen jedoch nicht nur für Menschen mit Fluchterfahrung offen sein. „Auch in Familien ohne Migrationshintergrund passieren Dinge, die Kinder und Jugendliche nicht allein bewältigen können“, erzählt Erdis. Sie hatte die Idee für das Projekt und entwickelte mit Unterstützung der Traumatherapeutin Judith Winkler, der psychologischen Psychotherapeutin Ulrike Bauer sowie der Traumapädagogin Katja Wagner-Regelmann das Konzept. Die Stabilisierungsgruppe orientiert sich an einem Projekt des psychosozialen Zentrums des Diakonischen Werks Lörrach. Dort werden seit 2017 mit großem Erfolg entsprechende Gruppen angeboten. Die Psychosoziale Stabilisierungsgruppe kooperiert mit dem Mannheimer Jugendamt, den Schulen und Kitas in Mannheim sowie weiteren Einrichtungen. Erste Gespräche mit Pädagogen und Eltern wurden bereits geführt. Dies ist zudem eine Neuerung zu bereits bestehenden Angeboten: Während die Kinder von ehrenamtlichen Elternbegleiterinnen betreut werden, gibt es für die Eltern ein Elterncafé. „Probleme in Familien kann man nie nur allein durch und mit dem Kind lösen“, erklärt Erdis. „Man muss die gesamte Familie mit ins Boot holen.“ Das Elterncafé sei ein sehr niedrigschwelliges Angebot für Eltern.

„Sie müssen ihre Kinder ja sowieso zu den Terminen bringen und auch wieder abholen. Da bietet es sich doch an, in der Zeit einen Kaffee zu trinken und vielleicht von der Familiensituation zu erzählen.“ Auch Dolmetscher gehören zu dem Angebot, allerdings habe sie diese in der Arbeit mit Kindern noch nie gebraucht, so Erdis. „Kinder drücken sich ohne Worte aus, sie spielen und malen und zeigen so ganz deutlich, was ihnen fehlt.“ Dafür stehen für jedes Kind spezielle Sandkästen bereit, mit Moduliersand und vielen verschiedenen Figuren, anhand derer die erlebten Situationen nachgespielt werden können. Ob dann auch gesprochen wird, das entscheiden die Kinder. „Es ist ein seit langem erfolgreiches Konzept der Traumatherapie, der seelischen Sprachlosigkeit, die durch große Verletzungen entstanden ist, mit Bildern zu begegnen und sie so begreifbar zu machen.“ Kinder und Jugendliche sollen in den Gruppen heilsame Erfahrungen für den Alltag machen, sichere Orte kennenlernen und Stabilisierungstechniken erarbeiten.

„ Das habe ich geschafft. Ich ganz allein.“

Die Kinder erfahren so spielerisch, mit ihren Gefühlen umzugehen, Stress abzubauen und seelische Stabilität zu erlangen. „Am Ende der Gruppe bekommen die Kinder ein Notfalltäschchen  überreicht, mit kleinen Geschenken, die ihnen vielleicht – wenn es mal wieder schwierig wird – helfen können. Die sie zumindest an eine Zeit erinnern, die sicher war und schön und ruhig“, hofft die Projektleiterin Erdis. Auch das von den Begleitern geführte Entwicklungsbuch bekämen die Kinder nach den zehn Wochen mitgegeben, „das ihnen zeigt: Das habe ich geschafft. Ich ganz allein.“

Vor der Gruppenarbeit führen die Therapeutinnen Anamnesegespräche mit den Kindern und Eltern und dann wird auch entschieden, ob die Teilnahme an der Gruppe sinnvoll ist oder ob das Kind nicht vielleicht doch bei einem Therapeuten angemeldet werden sollte oder ob die Probleme an ganz anderer Stelle liegen und auch dort behoben werden sollten. „Viele Familien haben große finanzielle Probleme und diese wirken sich natürlich auch auf die Kinder aus. Nicht nur durch die Erfahrung von Benachteiligung, sondern sie erleben die ganze Existenzangst ihrer Eltern, als wäre es ihre eigene. Auch hier versuchen wir niedrigschwellige Hilfen zu organisieren. Sei es ein Schuldenberater oder vielleicht auch mal ein Finanztopf, der angezapft werden kann.“

Nachdem die Corona-Pandemie den Start der Gruppe in den Sommer/Herbst 2021 verschoben hat, läuft die Ausbildung der 18 ehrenamtlichen Traumahelferinnen stetig weiter. Die Gruppe der Menschen sei „bunt gemischt“, so Erdis. „Natürlich sind Pädagogen dabei, aber auch Studentinnen und Rentnerinnen“. Lernen müssten diese auch, so Erdis, zuzulassen, dass es auch mal „nicht klappt mit der Hilfe. Wir können nicht alle ‚retten‘ und auch nicht Rettung für alle sein. Aber wir können versuchen ein Pflaster zu sein!“ Aus Hygiene- und Abstandsgründen sollen in die erste Gruppe nur sieben Kinder im Alter zwischen fünf und zehn Jahren aufgenommen werden. In den folgenden Gruppen sollen dann jeweils zehn Kinder betreut werden.

Mit der Dietmar Hopp Stiftung ist es gelungen, einen Förderer für das Angebot zu finden. Neben diesem Hauptsponsor wird das Projekt vom Flüchtlingsfonds der Stadt Mannheim sowie der ADM WILD Europe GmbH aus Eppelheim unterstützt.

bw // Fotos: AdobeStock, privat (Cigdem Erdis)

1. Juni 2021