„Zu dünnhäutig für die Welt“

Was genau ist eigentlich „Hochsensibilität“? Ist es eine Krankheit? Oder einfach ein neues Modewort? Interview mit Marlene Weinmann von der Systemischen Praxis für Therapie, Beratung, Coaching & Supervision in Heidelberg.

Sehr geehrte Frau Weinmann, was ist Hochsensibilität? Ist es eine Krankheit? Oder ein Zustand? Oder einfach ein neues Modewort?

Da muss ich ein bisschen ausholen, da sich die Frage aus meiner Sicht nur eindeutig uneindeutig beantworten lässt: Das ist Definitionssache. In der psychologischen Fachwelt wird der Krankheitsbegriff in den letzten Jahren heftigst diskutiert. Eine klare allgemeingültige Definition existiert hier nicht und kann es wohl auch nicht geben. Würde man etwa sagen, eine psychische Krankheit ist dadurch definiert, dass eine Abweichung von der Norm besteht, die für betroffene Personen häufig mit einem gewissen Maß an Leiden einhergeht und die Leistungsfähigkeit einschränken kann, könnte man sagen: Ja, es ist eine Art Störung. Offiziell als Erkrankung definiert ist Hochsensibilität nicht, da sie nicht als eines der Störungsbilder im ICD-10, dem in Deutschland gängigen Klassifikationssystem für sog. „Störungen von krankheitswert“ aufgeführt ist. Das war ADHS aber bis vor ein paar Jahren auch nicht und nun ist es die häufigste Diagnosen für Kinder im Grundschulalter. Wie sinnvoll das ist, sei dahingestellt.

Anzumerken ist an dieser Stelle vielleicht noch, dass viele Hochsensible der Hochsensiblität auch Positives abgewinnen können, wenngleich meist in eher engen Teilbereichen des Lebens oder bestimmten Situationen.

Dass Hochsensibilität momentan ein Modewort ist, würde ich auf jeden Fall so sehen. Das Thema wird bereits seit den 1960er Jahren erforscht, ist aber erst in den vergangenen Jahren vermehrt ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Das hat meiner Ansicht nach auch mit gesellschfaftlichen Entwicklungen zu tun, die viele Menschen fühlen lassen, sie seien zu „dünnhäutig“ für diese Welt.

Der Begriff „Zustand“ trifft es vielleicht am ehesten. Wobei Zustände immer auch von Umständen abhängen bzw. beeinflusst werden. Das Positive daran ist: Auf Zustände kann man in einem gewissen Maße steuernd einwirken, wenn man passende Strategien dafür findet. Das ist im Falle der Hochsensibilität, wie auch sonst, wenn es um seelische Zustände geht, eine komplexe Angelegenheit, da es sich hier immer um ein Zusammenspiel von genetischen und epigenetischen Variablen sowie Sozialisations-, Verhaltens-, Mindset- und Situationsfaktoren handelt.

Was sind die Kennzeichen hochsensibler Kinder?

Hochsensiblität zeigt sich bei Kindern etwa darin, dass sie besonders aufmerksam gegenüber ihrer Umgebung sind und hier recht viel mitbekommen, was anderen Kindern entgeht. Sie hören, sehen, riechen, fühlen oder verstehen auch teilweise mehr als ihre Altersgenossen. Gleichzeitig erleben sie Wahrgenommenes intensiver. Damit zusammen hängt wohl die Beobachtung, dass hochsensible Kinder auch über ein ausgeprägteres Langzeitgedächtnis verfügen: Was – auch emotional – intensiv erlebt wird, bleibt länger im Gedächtnis, wie man aus der Hirnforschung weiß. Dazu passt die Beobachtung, dass hochsensible Kinder ein vergleichsweise reicheres, regeres Innenleben zu haben scheinen. Das wird etwa darin erkennbar, dass sie im Vergleich zu anderen Kindern besoners fantasievoll spielen oder Geschichten erzählen. Viele sind auch künstlerisch interessiert und begabt. Ein Nachteil vom „Elefantengedächtnis“ kann sein, dass auch Verletzungen länger und deutlicher präsent bleiben, wodurch z.B. verzeihen erschwert wird und seelische Wunden langsamer heilen bzw. größere Narben hinterlassen. Hier kann man das Thema der Traumatisierung assoziiert sehen.

Oft merken hochsensible Kinder außerdem, wenn es anderen nicht gut geht und fühlen sich dadurch in ihrer eigenen Stimmung beeinträchtigt. Sind diese Tendenzen stark, kann ein gewisser melancholischer oder auch depressiver Eindruck auf die Umwelt entstehen. Die Kinder wirken bzw. sind oft unglücklich, auch wenn es scheinbar keine unmittelbare Veranlassung dazu gibt. Was Goethe als Weltschmerz bezeichnete, ist für viele hochsensible Kinder ein ständiger Begleiter. Damit geht auch einher, dass sie oft sehr hilfsbereit sind und einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit haben.

Sind hochsensible Kinder überreizt, etwa durch Lärm, Tumult oder schnell wechselnde Bilder, denen sie über Filme oder Computerspiele ausgesetzt sind, zeigen sie z.T. Symptome, die man der Kategorie ADS/ADHS zuordnen könnte: Sie können sich nicht konzentrieren, werden extrem unruhig und agieren körperlich aus. Manche zappeln, fummeln an irgendetwas herum oder kauen Fingernägel. Andere laufen weg oder reagieren aggressiv. Häufig werden auch Dinge vergessen oder verloren, während das innere Chaos groß ist.

Bei vielen hochsensiblen Kindern ist dann auch das Schlafverhalten gestört. Dauernde Müdigkeit und ein erhöhtes Schlafbedürfnis einerseits und Ein- und Durchschlafstörungen andererseits zehren an Nerven von Kindern und Eltern. Hier können sich schnell Teufelskreise entwickeln.

Wie kann man ihnen helfen? Welche Möglichkeiten gibt es?

Was speziell die Kinder als Ansatzpunkte betrifft, würde ich sagen, das Grundlegenste ist das gleiche wie bei anderen Kindern auch: Sie sollten das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie in Ordnung und angenommen sind, so wie sie sind. Das mag banal klingen, ist aber für Kinder, die irgendwie „anders“ sind, niemals selbstverständlich. Sie merken, dass sie sich von ihren Altersgenossen unterscheiden und fragen sich, ob mit ihnen etwas „nicht stimmt“. Je deutlicher und häufiger ihnen das dann auch von außen gespiegelt wird, sei es über andere Kinder, Eltern oder Lehrer, desto stärker geraten sie unter Druck. Die hier entstehenden Selbstzweifel können sich bis zum Selbsthass steigern und alle möglichen ausgewachsenen psychischen Schäden mit bedingen. Hochsensible Kinder brauchen von ihrem Umfeld unbedingt eine akzeptierende Grundhaltung.

Förderlich sind außerdem Räume und Tätigkeitsbereiche, in denen sie sich wohl fühlen und ihre Kompetenzen ausleben können, um ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln zu können.

An anderen Stellen braucht es ein „Weniger“, z.B. an Bilder-, Geräusche- oder sonstiger Informationsflut, an sozialer, geistiger und emotionaler Beanspruchung. Die Möglichkeit, sich bei erlebter Überreizung zurückzuziehen, ist ebenfalls ein wichtiger Punkt. Eine Hürde in dieser Hinsicht kann sein, dass die Kinder die eigene Überforderung selbst gar nicht bewusst bemerken. Insofern ist es in meinen Augen für hochsensible Kinder besonders wichtig, achtsam und reflektiert auf sich selbst und ihre Umwelt blicken zu können. Nur im Anschluss daran können sie nämlich sinnvolle Strategien für ihre Selbstfürsorge und ihren Umgang mit Anderen sowie allgemeinen Lebensthemen entwickeln. Methoden hierfür können beispielsweise Achtsamkeitsübungen, Tagebuchschreiben oder auch Gespräche sein.

Als Kehrseite dessen ist allerdings zentral, die Kinder nicht ausschließlich „in Watte zu packen“, nachdem man meint, sie als hochsensibel identifiziert zu haben. Wer nie seine Komfortzone verlässt, kann auch nie über sich hinauswachsen. Gerade bei hochsensiblen Kindern braucht es eine gelungene Balance aus „Hinterm-Ofen-Vorlocken“ einerseits und Vermeiden von totaler Überforderung andererseits. An der Stelle kommen auch besonders die Eltern ins Spiel.

 Worauf sollten Eltern achten, wenn sie die „Befürchtung“ haben, dass ihr Kind „zu sensibel“ ist?

Die Bezeichnung „Befürchtung“ finde ich aus Sicht der Eltern erstmal völlig legitim. Es ist nicht nur, aber auch nicht selten eine kalte, harte und grausame Welt, mit der wir uns „da draußen“ konfrontiert sehen. Und wer in Relation dazu „zu sensibel“ ist, kann daran zerbrechen. Eltern wollen natürlich das Beste für ihre Kinder. Sie wollen, dass ihre Kinder den Herausforderungen des Lebens gewachsen sind und diese meistern können. Geben Kinder dann schon früh Anzeichen, dass ihnen alles zu viel ist, löst das bei Eltern Ängste aus.

Was Eltern für ihre Kinder tun können, haben wir ja bereits angerissen. Mindestens genauso wichtig finde ich aber auch, was Eltern gerade NICHT für ihre Kinder tun sollten, nämlich z.B. zu versuchen, ihnen jeden Wunsch von den Augen abzulesen, jegliche Frustration zu ersparen, sie vor jedem Schmerz zu bewahren und ihnen jede Last von den Schultern zu nehmen. Das führt mit einer hohen Wahrscheinlichkeit dazu, dass die Hochsensibilität sich immer weiter steigert. Was Raum bekommt, nimmt sich Raum, und eine Hornhaut, auch die der Seele, baut sich nur durch Reibung und Beanspruchung auf. Wird die Seele nie irgendwelchen Bealstungen ausgesetzt, ist eine übermaßige „Dünnhäutigkeit“ die logische Konsequenz.

Eigenschaften aller Art, egal ob erwünscht oder unerwünscht, werden außerdem durch Eltern verstärkt, indem sie diesen viel Beachtung schenken. Das ist so, weil Kinder die Zuwendung ihrer Eltern suchen und mehr von dem machen, was mit Aufmerksamkeit belohnt wird. Wird die Hochsensiblität des Kindes also viel in den Mittelpunkt gestellt, dehnt sie sich aus.

Angeblich empfinden diese Kinder viel tiefer als andere und können sich schlecht abgrenzen. Dagegen gibt es doch kein Medikament, keine Therapie, oder? Muss man es dann einfach so hinnehmen?

Ja, hochsensible Kinder können sich schlecht abgrenzen. Diese Tatsache ist m.E. aber auch in einen größeren Zusammenhang eingebunden zu betrachten. Wie bereits erwähnt: Auch Hochsensibilität neigt dazu, sich auszudehen, solange eben, bis sie an Grenzen stößt. Daher sind auch Grenzen von außen ein zentrales Thema. Und zwar natürliche Grenzen und bitte keine konstruierten sog. Erziehungemethodiken. Was meine ich damit? Es geht im Wesentlichen darum, dass Eltern sich selbst auf eine sinnvolle, gesunde Weise abgrenzen – auch gegen ihre Kinder. Das funktioniert am besten, indem sie genau das tun, wovon sie wollen, dass es ihren Kindern gelingen möge. Kinder lernen nämlich viel am Modell, d.h. sie schauen, was die Eltern oder andere wichtige Bezugspersonen machen und machen es dann auch so. Missachten und vernachlässigen Eltern ihre eigenen Bedürfnisse, weil sie mit ihren hochsensiblen Kindern so mitfühlend sind, dass sie sich selbst nicht mehr spüren oder aus übermäßiger elterlicher Gewissenhaftigkeit heraus handeln, leben sie ihren Kindern genau die schlechte Abgrenzungsfähigkeit vor, welche diese sich dann auch zueigen machen. Vor allem Eltern, die selbst hochsensibel sind, die jede innere Unausgeglichenheit ihrer Kinder sofort wahrnehmen UND sich dann in ihrem stark ausgeprägten Verantwortungsgefühl in der Pflicht sehen, hier sogleich für Abhilfe zu sorgen, während sie eigene Bedürfnisse vielleicht ignorieren, fördern auch Hochsensibilität bei ihren Kindern. Das ist einer der zirkulären Verstärkungsprozesse, deren es im Zusammenhang mit Hochsensibilität viele gibt. Eltern müssen selbst erst lernen, was ihre Kinder können sollen. Das ist in meinen Augen die wirksamste Therapie. Deshalb arbeite ich bei problematisch erlebter Hochsensibilität wie übrigens auch hinsichtlich der meisten anderen Symptomatiken bei Kindern nach Möglichkeit in erster Linie mit den Eltern.

Es gibt viele Arten, wie Eltern Hochsensiblität bei ihren Kindern erzeugen und verstärken können. Auch etwa, indem sie ständig Anzeichen von Überlastung und Überforderung geben. Da gewöhnen sich Kinder an, mit ihren Gedanken und Gefühlen ständig bei den Eltern, also im Außen, zu sein und alles genaustens wahrzunehmen und zu spüren, was hier vorgeht, weil sie von sich aus die Eltern unterstützen oder zumindest nicht zusätzlich belasten wollen. Gefühle von Überlastung und Überforderung können unterdessen verschiedene Ursachen haben. Wachsender Leistungsdruck und Unsicherheit im Job, mediale Reizüberflutung sowie psychische Erkrankungen von Eltern fallen mir hier besonders auf. Sind Eltern aber originär oder zusätzlich überlastet und überfordert, weil sie auf ihre Kinder so viel Rücksicht nehmen wollen, dass sie nicht gut genug für sich selbst sorgen, haben wir die nächste Abwärtsspirale in Gang gebracht.

Um Ihre ursprüngliche Frage zu beantworten: Man muss die Hochsensibilität von Kindern hinnehmen, wenn sie nun mal da ist. Gleichzeitig kann man Einfluss darauf nehmen, wie sie sich weiter entwickelt. An den Kindern selbst viel „herumzudoktorn“ ist aber aus meiner Sicht der falsche Weg. Das stellt die Hochsensiblität nämlich erstens noch mehr in den Mittelpunkt und bläst sie dadurch auf, verstärkt zweitens bei den Kindern den Eindruck, unnormal, defizitär und behandlungsbedürftig zu sein und bringt zum Dritten die Eltern noch weiter weg von dem, was sie im Grunde tun sollten, nämlich bei sich zu schauen. Eltern müssen sich selbst stärken, um ihre Kinder stärken zu können.

Vielleicht noch ganz kurz zu den Medikamenten: Natürlich gibt es Wirkstoffe, die Kinder gefühlsmäßig herunterdämpfen und somit auch unliebsame Symptome von Hochsensibilität lindern können. Nichts anderes wird ja hinsichtlich anderer Symptomatiken auch gemacht. Spezielle Medikamente wurden gegen Hochsensiblität bislang nicht entwickelt, auch weil sich das für die pharmazeutische Industrie erst lohnen würde, wenn Hochsensibilität offiziell als Krankheit deklariert und über die Möglichkeit der Verschreibung ein breiter Markt für die Präparate entstehen würde. Da hochsensible Kinder aber ohnehin häufig mit Depression, ADHS oder anderen Störungen diagnostiziert und entsprechend „eingestellt“ werden, findet eine Medikation in gewisser Weise bereits statt. Dazu möchte ich anmerken, dass ich es im Allgemeinen hochgradig bedenklich finde, Kinder aufgrund psychischer Dysbalancen in irgendeiner Form unter Drogen zu setzen.

Sind hochsensible Kinder schutzloser als andere? Können sie leichter verletzt werden? Und was kann man dagegen machen?

Ja, ich würde sagen, sie sind schutzloser und können in denselben Situationen schneller und auch tiefer verletzt werden als andere Kinder, eben weil sie nach außen hin schlecht abgegrenzt sind. Daher: Grenzen stärken von allen Seiten ist das zentrale Thema. Dafür braucht es am besten alles das, was wir zuvor besprochen haben:

  1. Ein grundlegendes Gefühl von Angenommen- und in-Ordnung-sein und nicht eine Last für irgendwen sein. Dies muss bei Kindern in erster Linie vom Umfeld geleistet werden.
  2. Sich selbst wahrnehmen in der Differenz zum Außen: Wo fange ich an, wo hört der Andere auf? Wie viel vom Anderen will ich mir zu eigen machen? Hier geht es um Achtsamkeit auf sich selbst und auch um bewusste Entscheidungsoptionen inklusive Umsetzungsfähigkeiten, die über gezielte Reflexion sowie Erarbeiten von Strategien erreicht werden können.
  3. Selbstgefühl und Filterreduktion von innen nach außen: Die Gefühle, die als eigene gefühlt werden und mit gewissen, zu ergründenden Bedürfnissen einhergehen, müssen ihren Weg ins Außen finden dürfen. Mitteilen von Emotionen und Wünschen sollte grundsätzlich erlaubt und erwünscht sein. Dies kann trainiert werden, wobei aber auch die Angemessenheit von Timing und Frequenz entsprechender Appelle an die Umwelt Berücksichtigung finden sollten.
  4. Wenn Eltern das bisher genannte nicht leben bzw. bieten, ist es unwahrscheinlich, dass es den Kindern gelingen wird. Haben Eltern hier selbst Schwierigekeiten, sollten sie in erster Linie an sich arbeiten, wenn Sie ihren Kindern eine echte Hilfe sein wollen. Dazu gehört auch, sich die Emotionen der Kinder nicht zu eigen zu machen und sich nicht durch die Wünsche, Bedürfnisse und Empfindlichkeiten der Kinder im eigenen Sein beherrschen zu lassen.
  5. Kinder brauchen in ihrer Entwicklung auch Unannehmlichkeiten und Herausforderungen, an denen sie wachsen, ein Selbstbewusstsein entwicklen und ihre Widerstandsfähigkeit gegen Einflüsse von Außen aufbauen können. Eltern, die ihre Emotionen, Grenzen und Bedürfnisse klar haben und auch dem Kind gegenüber eine konsequente Selbstfürsorge in diesem Sinne betreiben, werden dies ohne zusätzlichen Aufwand auf natürliche Weise bereitstellen.

 Interview: bw // Foto: privat

 

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