„Mädchen brauchen Vorbilder“

Klug, erfolgreich, jung, vielfach ausgezeichnet. Mai Thi Nguyen-Kim ist eine deutsche Chemikerin, Wissenschaftsjournalistin, Fernsehmoderatorin, Autorin und YouTuberin. Chemie zu studieren war für die in Hemsbach an der Bergstraße geborene Tochter vietnamnesischer Eltern, ganz normal. Weil sie als Kind einfach nicht wusste, dass sich Mädchen normalerweise nicht für Naturwissenschaften interessieren. Auf „mailab“, ihrem YouTube- Kanal, bringt sie auf unterhaltsame und intelligente Weise den Zuschauer/innen Chemie näher. Mal geht es um die Formel für Alkohol, im Selbstversuch, mal um „Rezo wissenschaftlich geprüft“.

VorbilderSehr geehrte Frau Dr. Nguyen-Kim, woher kommt Ihr Interesse an den Naturwissenschaften?

Mai Thi Nguyen-Kim: Ich komme aus einer naturwissenschaftlichen Familie, mein Vater ist auch Chemiker und ich hatte durch ihn einen ganz alltäglichen Zugang zu Chemie. Chemie und Physik, das waren für mich keine eigentlichen Schulfächer, oder Wissenschaften, sondern eine Art Lebenswissen. Mein Vater konnte mir mit Chemie immer alles erklären, sei es beim Kochen, oder die Inhaltsstoffe von Kosmetik. Ich habe Chemie von Anfang an als etwas ganz Natürliches wahrgenommen, für mich war es auch nie irgendetwas, das für Jungs oder für Mädchen ist … Mein Bruder ist übrigens auch Chemiker – mir war lange Zeit nicht bewusst, dass ich nur männliche Vorbilder habe. Ich fand es nur natürlich, dass es mir auch gefällt.

Aber warum interessieren sich noch immer so wenig Mädchen für Naturwissenschaften?

Es existieren immer noch starke Klischees. Es existieren immer noch starke Klischees. Seit ich in den Medien arbeite, wird mir das immer bewusster, nämlich, wie ungewöhnlich es ist, eine junge Frau vor der Kamera als Expertin zu sehen. Generell sind die Experten in den Medien – und auch an den Hochschulen – meistens Männer. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: es gibt zahlreiche kluge wissenschaftliche Kanäle, alle haben männliche Protagonisten. Sei des vor der Kamera, aber auch wenn es graphische Darstellungen gibt, dann unterlegt mit einer männlichen Experten-Stimme. Wenn es also so ungewöhnlich ist, eine junge Frau als Wissenschaftlerin zu sehen und die Mädchen mit diesem Eindruck aufwachsen, ist es kein Wunder, dass es sie beeinflusst.

Es liegt also nicht an den Inhalten?

Defi nitiv nicht. Schaut man sich die Zuschauerquoten an, so haben diese Kanäle einen weiblichen Zuschaueranteil von drei Prozent und wenn es sehr gut läuft 10 Prozent. Ich bin die einzige Youtuberin in Deutschland die Naturwissenschaftlerin macht und bei meinem Kanal „maiLab“ liegt der Anteil der weiblichen Zuschauer über 40 Prozent. Es hat also nichts mit den Inhalten zu tun, sondern dass Mädchen sich einfach nicht angesprochen fühlen.

Eigentlich hätten Sie ja die klassische Laufbahn einer Wissenschaftlerin im Labor einschlagen sollen. Warum haben Sie sich dagegen entscheiden?

Direkt nach meiner Doktorarbeit wurde ich von Funk für eine Fernsehmoderation angefragt. Ich dachte: warum nicht mal ein Jahr Pause machen und etwas ganz anderes machen. Eine Art Sabbatical. Aber mir wurde sehr schnell klar, dass es genauso wichtig ist, Wissenschaft zu vermitteln, wie in der Wissenschaft zu arbeiten. Nicht nur die Erkenntnisse sind wichtig, sondern es muss darum gehen, diese der breiten Bevölkerung so zu vermitteln, dass sie verstanden und als Problemlösungen akzeptiert werden. Beispiel Impfen. Oder Beispiel Klimawandel. Ohne die breite Akzeptanz der Bevölkerung ist die ganze Arbeit, die ich im Labor mache, umsonst. Ich habe schnell gemerkt, dass da ein wichtiger Teil der Wissenschaft einfach fehlt. Wird sie nicht vermittelt, dann bleibt sie unbemerkt im Labor.

Ich habe ein Zitat von Ihnen gelesen: „Früher hat man geglaubt, was Wissenschaftler gesagt haben“. Warum ist das jetzt anders?

Das hat viel mit den neuen Medien und mit dem Überangebot an Informationen. Noch nie war es so leicht an Informationen zu kommen und Paradoxerweise führt dieses Überangebot an Informationen dazu, dass es immer schwieriger wird, Fakten einzuordnen. Was stimmt jetzt und was nicht? Ist das jetzt verlässlich oder nicht … es ist verständlich, dass die Skepsis gegen Informationen steigt.

Muss Wissenschaft also politisch werden?

Die Frage ist nicht, wie politisch darf Wissenschaft sein, sondern wie unwissenschaftlich darf Politik sein?! Wenn Wahrhaftigkeit auf Kosten politischer Agenda übergangen wird, Stichwort
Klimawandelleugner, dann hat das nichts mehr mit Einmischen zu tun, es gehört für mich zur gesellschaftlichen Verantwortung dazu. Wissenschaft zu vermitteln ist bringt unsere Gesellschaft weiter. Man kann dieses Umdenken der Wissenschaft sehr gut an der Bewegung Das kann man sehr gut an der Bewegung „Scientists for Future“ sehen. Diese Bewegung entstand aus der puren Notwendigkeit heraus. Eigentlich halten sich Wissenschaftler lieber zurück, bleiben sachlich und arbeiten still im Labor. Wir merken aber, man muss auch Verantwortung wahrnehmen und für Erkenntnisse einstehen.

Was halten Sie von den gesellschaftlichen Anstrengungen, Mädchen für männliche Berufe zu begeistern, Beispiel „Girls Day“?

Ich bin da sehr ambivalent eingestellt. Einerseits finde ich es gut, wenn wir soziale Ungerechtigkeiten ausgleichen, aber durch Initiativen wie „Girls Day“ wird den Mädchen ja gesagt:
„Du bist ein Mädchen und kannst trotzdem Mathe.“ Da manifestiert sich etwas wie ich finde komplett Unnormales in der Selbstwahrnehmung von Mädchen und jungen Frauen. In der Wissenschaft geht es nur um Inhalte, Geschlecht sollte überhaupt kein Thema mehr sein.

Und zum Schluss noch eine Frage zum Stichwort „Schaumschlägersyndrom“. Sie haben in früheren Interviews von ihrer Überraschung gesprochen, dass sich viele Frauen wie „Schaumschläger“ fühlen. Woher kommt dieses Gefühl?

Ich habe dies tatsächlich vor allem bei akademisch erfolgreichen jungen Frauen aus meinem Umfeld festgestellt. Ich kann nur vermuten, dass dies ebenfalls eine Folge der festverankerten gesellschaftlichen Rollenklischees ist. Die akademische Landschaft ist noch immer sehr männerdominiert. Frauen fühlen sich wie Fremdkörper, so als würden sie hier nicht ganz natürlich hingehören. Werden Sie als Experten angefragt, so sagen sie nicht gleich zu. Männer würden ohne Zögern zusagen. Stattdessen fangen Frauen an zu zweifeln und fragen sich: ‚Bin ich wirklich eine Expertin für dieses Thema? Bin ich wirklich gut genug?‘ Und dieses Gefühl kann nicht durch äußere Förderprogramme abgeschaltet werden.

bw // Fotos: Droemer-Knaur/Thomas Duffé

Mai Thi Nguyen-Kim
Die Wissenschaftsjournalistin und Youtuberin Mai Thi Nguyen-Kim hat in Mainz und am Massachusetts Institute of Technology Chemie studiert, in Aachen und Harvard promoviert. Nach Abschluss begann sie TV-Sendungen wie “Quarks”, “Planet Wissen” und “Terra X Lesch & Co” zu moderieren. Außerdem ist sie Dozentin am Nationalen Institut für Wissenschaftskommunikation. Bekannt geworden ist sie aber vor allem durch ihren YouTube-Kanal “maiLab”. In den unterhaltsamen Videos erklärt sie naturwissenschaftliche Phänomene mit Kompetenz und Witz. Ihr erstes Buch „Komisch, alles chemisch“ stand auf Platz 2 der Spiegel-Beststellerliste. 2018 wurde sie Journalistin des Jahres in der Kategorie Wissenschaft, gewann den Grimme Online Award in der Kategorie Wissen und Bildung, sowie den renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis.

Mehr zu Mai Thi Nguyen-Kim unter:
youtube.com/c/mailab
youtube.com/c/thesecretlifeofscientists,
instagram.com/maithink

 

Ähnliche Beiträge