Titelthema Mädchen

Ein Mädchen sitzt vor einer Mauer. Jeden Freitag. Ein Schild vor sich. Ihre braunen Zöpfe sind nachlässig geflochten. Sie schaut ernst. Das Bild ist erst etwas über ein Jahr alt. Vor einem Jahr zeigte dieses Foto eine merkwürdige 15-Jährige mit Asperger-Syndrom, die niemand kannte. Heute kennt ihren Namen die ganze Welt. Greta. Klimaaktivistin, Preisträgerin, Ikone ihrer Generation. Der von ihr begründeten Bewegung „Fridays for Future“ folgen Millionen Menschen überall auf der Welt. Greta Thunberg wurde als einflussreichste Teenagerin 2018 ausgewählt, sie war auf dem Time Magazine und bekam den Alternativen Nobelpreis. 1,7 Millionen Menschen folgen ihr auch auf Instagram. Sie ist ein Popstar, aber einer mit Haltung. Sie hat uns wachgerüttelt und um den Schlaf gebracht.

MädchenMädchen haben heute bessere Noten als Jungen, Mädchen machen häufiger Abitur. Mädchen bekommen im Schnitt weniger Taschengeld als Jungen. Frauen verdienen im Berufsleben noch immer 21 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Weltweit haben 15 Millionen Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren in ihrem Leben bereits sexuelle Gewalt erfahren, neun Millionen von ihnen innerhalb des zurückliegenden Jahres.* Pro Woche werden in Deutschland drei Frauen getötet.* Mädchen helfen doppelt so häufig im Haushalt wie Jungen. Mädchen sind permanent mit subtiler Misogynie konfrontiert. Mädchen werden weltweit von besorgten Eltern mit Beschränkungen wie Kleidervorschriften und eingeschränktem Bewegungsraum belegt.

Die Shell-Jugendstudie 2019 dokumentiert: Mädchen sind heute tolerant, weltoffen und umweltbewusst. Achtsamkeit und Gerechtigkeit sind ihre Hauptthemen. Sie messen einem politischen Engagement eine hohe Bedeutung zu und sind weniger anfällig für Populismus als ihre männlichen Altersgenossen. Mädchen – wie auch Jungen – bewegen sich heute schlafwandlerisch sicher durch einen durchdigitalisierten Alltag. Fragt man sie nach ihren Zukunftswünschen, so steht eine Familie, ein hohes Einkommen und viel Freizeit ganz oben auf der Agenda. Immer mehr Mädchen studieren klassische „Männerberufe“. Werden Bundeskanzler. Parteivorsitzende. Pilotin. Aber: Über die Hälfte aller Jugendlichen gab in der aktuellen Shell-Studie zu Protokoll, dass sie sich bei einer späteren Partnerschaft mit Kleinkind ein Modell wünschen, bei dem der Mann Allein- oder Hauptversorger ist. Denn spätestens, wenn Mädchen Mütter werden, ist es vorbei mit der formalen Gleichberechtigung. Die Mädchen von heute schauen sich um und finden unter den vielen tollen Frauen, die ihre Vorbilder sein könnten, keine Mütter. Ihre Vorbilder und Role Models sind widersprüchlich. Mädchen sehen ihre eigenen Mütter, die sich zwischen Beruf, Kindern, Haushalt und Partnerschaft zerreiben – oder die Abwertungen, die Mütter erfahren, die „nur“ zu Hause sind, als Hausfrauen ohne Anerkennung und eigenes Einkommen. Wo sind die Mütter, die Organisationen gründen, Macht verkörpern, den öffentlichen Raum bestimmen – oder auch nur die Netflix-Serien rocken, ohne komplett hysterisch, verhärmt oder unfähig dargestellt zu werden?

„Mädchen fehlen Vorbilder“, stellt die erfolgreiche Youtuberin und Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim im Interview fest (stadtlandkind.info/maedchen-brauchen-vorbilder). Sie selbst fand es ganz normal, Chemie zu studieren, schon als Kind war sie fasziniert von Naturwissenschaften. Weil es eben „ganz normal“ war. In einer Familie von Naturwissenschaftlern wäre es ihr komisch vorgekommen, sich nicht dafür zu interessieren. Erst im Berufsleben wurde ihr bewusst, dass es immer noch außergewöhnlich ist, dass Mädchen auch Mathe mögen, obwohl sie Mädchen sind. Und auch Carola Rackete, die Kapitänin des Flüchtlingsrettungsschiffes „Seawatch 3“, die Schiff mit 42 Migranten aus Afrika an Bord trotz Verbot in den Hafen Lampedusas steuerte und seitdem als Heldin gefeiert wird, wundert sich, dass es die Menschen beschäftigt, welche Kleidung sie trägt (Quelle: www.spiegel.de).

Wie passt das alles zusammen?

Diese Ambivalenz manifestiert sich auch an dem extremen Schönheitsideal, mit dem Mädchen heute aufwachsen. Die permanente Präsenz perfekter Schönheit, gepostet im öffentlichen medialen Raum, schränkt natürlich die Freude an der eigenen, unperfekten Schönheit ein. Schminktutorials, Diät-Tipps als App auf dem Handy, Stars, die sich übermenschlich inszenieren und Schönheit als Eigenschaft feiern … das hat Folgen. Die Überbewertung des Äußeren, die Perfektion des Körpers wertet ganz automatisch andere Eigenschaften ab. Sich zu engagieren beispielsweise oder Freude am Sport und an der Schule zu haben.

Und trotz allem feiern wir die Mädchen und jungen Frauen von heute. Vielleicht zeichnet es die Heldinnen des Heute aus, dass sie das Thema Mädchen nicht zum eigentlichen Thema machen. Die Rolle, die sie einnehmen, ist nicht genuin weiblich, aber auch nicht männlich. Sondern menschlich. Die vielen verschiedenen Rollen, die Mädchen heute und in Zukunft erfüllen müssen, gelingen ihnen mit Grandezza. Widerstände spornen sie noch an. Und die Gesellschaft nimmt ihr Engagement, die unbezahlte Arbeit, die Care-Arbeit, die Pflegearbeit wie selbstverständlich hin. Nur, wenn die Heldinnen von heute Mütter werden,  brauchen sie einen Helden oder andere Unterstützer an ihrer Seite. Der oder die genauso dringend Karriere machen will, wie die gemeinsamen Kinder im Alltag zu begleiten und zu selbstbewussten und glücklichen Erwachsenen zu erziehen, den Haushalt zu schmeißen oder die eigenen Eltern zu pflegen. Der weiß, dass Leistung nicht nur mit guten Noten und einer erfolgreichen Karriere zu tun hat. Gleichberechtigung hieß bis jetzt immer: die eigene Karriere so zu verfolgen wie der Mann. Der starken und schönen Mädchengeneration von heute, die offen ist für eine Zukunft ohne Grenzen, Hautfarbe, Religion und Lebensstil, sagen wir mit Astrid Lindgren: „Sei Pipi, nicht Annika“ … wenn Du das  willst. Aber wir alle wissen: Ohne Annikas würde die Welt nicht funktionieren.

bw // Fotos: mschi

*www.unicef.de
** Bundeskriminalamt 2018
Zum Weiterlesen: Jugend 2019 – 18. Shell Jugendstudie. Eine Generation meldet sich zu Wort. BELTZ Verlag 2019, 24.95 Euro

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