So geht Integration

Seit zehn Jahren wird an der Humboldt-Werkrealschule in Mannheim das Fach Islam in den Lehrplan integriert. Das trägt nicht nur zur Bildung bei, sondern auch zur Integration, davon sind Schule, Politik und Gesellschaftsforscher überzeugt. Fremdheit kann so als Bereicherung und nicht als Bedrohung wahrgenommen werden.

„Hallo Herr Gider, was geht?“ Drei muntere Fünftklässler mit ziemlich coolen Undercuts versuchen die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sie lungern vor ihrem Klassenzimmer herum, eben hat es zum Ende der Pause geklingelt. 460 Schüler aus 35 verschiedenen Herkunftsländern stürmen die Treppen nach oben oder mischen noch schnell den Schulhof auf, bevor es wieder langweilig wird. Die Atmosphäre ist lebendig, an jedem Klassenzimmer kleben „Schule ohne Rassismus“- oder „Nur Loser mobben und beleidigen andere“-Sticker. An der Tafel stehen die Namen der Kinder Sophia, Justin, Tayfun, Xenia, Mladen, Yassar …

Wir sind heute hier, um Selim Gider zu treffen. Der in Eberbach geborene, türkischstämmige Lehrer und gläubige Muslim unterrichtet an der Humboldt-schule seit zehn Jahren islamischen Religionsunterricht. Islamischer Religionsunterricht? Das hat uns schon länger interessiert. Warum wird er angeboten? Und wer besucht ihn? Werden auch kritische Fragen diskutiert? Zum Beispiel was das Fasten kleiner Kinder im Ramadan betrifft.„Der Ramadan war dieses Jahr für die muslimischen Schülerinnen und Schüler hart. Er fiel komplett in die Schulzeit und noch dazu in die Zeit der Abschlussprüfungen. Keine Ferien zum Ausruhen, stattdessen hohe Temperaturen und das Lernen für den Abschluss.“ Wir sind gleich mit einem schwierigen Thema ins Gespräch gestartet: ‚Sollten Kinder fasten?‘ Selim Gider bleibt gelassen. „Wer fasten will, der soll es tun. Aber gelernt wird trotzdem. Wer Sport hat und nicht fasten kann, setzt eben einen Tag aus. Kleinere Kinder versuchen das ‚Kinderfasten‘, also einfach mal zwei Stunden nichts essen und trinken. Der Nutzen des Fastens steht im Vordergrund: Wer fastet, empfindet mehr Dankbarkeit gegenüber Gott, lernt die Dinge, die er im Leben hat, zu schätzen.“

Integration

Der islamische Religionsunterricht sunnitischer Prägung wird von Selim Gider zwar streng nach Lehrplan, aber auch ganz pragmatisch umgesetzt. „Viele Kinder sprechen kaum Deutsch und ihre eigene Muttersprache sprechen sie auch nur rudimentär. Viele dieser Kinder verstehen den Imam beim Freitagsgebet kaum, sie kommen aus den unterschiedlichsten Ländern. Als einzige Gemeinsamkeit: sie sind Kinder und sie sind Muslime. Da muss man mit den Basics beginnen.“ Viele Eltern möchten, dass ihre Kinder in der Schule etwas über den eigenen Glauben lernen. Unabhängig von dem Freitagsgebet in der Moschee. Das ist auch nötig, befindet Gider. „Die meisten muslimischen Kinder bekommen von zu Hause kein Fundament mehr vermittelt, sie wissen nichts über eigene Religion und natürlich auch nichts über fremde Religionen. Sie wissen nicht, warum sie fasten oder was die fünf Säulen des Islam bedeuten. Ebenso wenig, wie viele deutsche Kinder wissen, warum Pfingsten gefeiert wird.“

Selim Gider ist praktizierender Muslim und das war vor 14 Jahren auch der Grund, dass ihn sein damaliger Schulamtsleiter ansprach. Ob er nicht Lust hätte, Religionslehrer zu werden. Gider hatte große Lust und nach einer halbjährlichen Fortbildung startete er den Islamunterricht mit einer ersten Klasse. Religiös zu sein, das ist für ihn die Grundlage, um das Fach Islam zu unterrichten. „Man muss religiös sein, um authentisch zu sein“, ist er überzeugt. An der Humboldt Werkrealschule sind 55 Prozent der Schülerinnen und Schüler Muslime. Die Inhalte des Islamunterrichts passt er den Möglichkeiten der Kinder an, je nach sprachlichen Kenntnissen. „Vor allem die osteuropäischen Kinder kommen mit großen sozialen Problemen in die Schule. Viele haben Sintiwurzeln und waren in ihren Herkunftsländern schon in der Außenseiterrolle, das geht hier genauso weiter. Die Eltern der Kinder – die meisten leben bei ihren alleinerziehenden Müttern – haben zwei oder drei Jobs, um irgendwie zu überleben – da hat niemand Zeit und Kraft sich um die Kinder zu kümmern. Schule und Freizeitbeschäftigungen wird alles den Kindern überlassen.“

„Für Kinder am Rande der Gesellschaft ist es identitätsprägend etwas über ihre Religion zu lernen“

Speziell für diese Kinder mit sozialen Problemen und Auffälligkeiten sei der Religionsunterricht eine Hilfe, sich zurechtzufinden. „Was sind gute Umgangsformen? Wie gehen wir respektvoll und wertschätzend miteinander um, egal aus welchem Land wir kommen?“ Es sei für diese Kinder am Rande der Gesellschaft identitätsprägend etwas über ihre Religion zu lernen. „Aber nicht im Sinne von Absonderung, die Kinder sollen sich selbst kennenlernen, dann können sie auch auf andere zugehen.“ Angenommen wird der Islamunterricht sehr gut, der Bedarf steigt auch in anderen Bundesländern. „Die Kinder sind nicht nur interessiert und bei der Sache, sondern auch stolz. Sie lernen, dass sie auf etwas stolz sein können, und dass diese Wertschätzung in der Schule stattfi ndet ist für sie etwas Besonderes.“

Mit den höheren Klassen werden auch politische Themen besprochen. Etwa die Anschläge auf Charlie Hebdo oder der Anschlag auf Muslime in Christchurch. Präventionsarbeit gegen Radikalisierung – das gehe nur, indem man alles hinterfrage und auch kritische Fragen zulasse, ist Gider überzeugt. „Wir müssen uns auch als Moslems hinterfragen und überlegen: wie ist der Blick auf uns. Es ist nur schade, dass wir uns immer verteidigen müssen. Dass in der Öffentlichkeit immer nur das dargestellt wird, was uns unterscheidet. Und nur ganz selten darüber berichtet wird, was wir gemeinsam haben.“ „Religion soll eine Hilfe sein“, sagt Selim Gider abschließend. „Sie soll uns erden und ist ein Mittel, um zur Ruhe zu kommen. Wie Yoga oder Joggen. ‚Gott will uns doch nicht stressen!‘, sage ich immer zu den Kindern.“ bw // Foto: istock

Der Islam in Deutschland
Der Islam ist für viele Migranten muslimischer Herkunft eine wichtige Bezugsgröße. Das gilt auch für Kinder und Jugendliche. Kompliziert wird es dadurch, dass die in Deutschland lebenden Muslime eine heterogene gesellschaftliche Gruppe bilden, die sich nach Konfessionen (Sunniten, Schiiten, Aleviten, Ahmadiya), nach Organisationsformen (Dachverbände, Moscheegemeinden, Vereine, mystische Sufi bruderschaften, religiöse Parteien) nach Rechtsauslegung und im Grad ihrer religiösen Praxis und Gläubigkeit stark unterscheiden. Ebenso vielfältig ist das Religionsverständnis innerhalb der Muslime sowie die religiöse Praxis bei Ritualen und Festen. In Deutschland leben ca 4,4 Millionen Muslime.

 

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